Wolf im Regen
ACHTUNG: Diese Rezension enthält wesentliche SPOILER.
William-Oliver Layton-Fawkes … was für ein sperriger Name für eine Hauptfigur. Praktisch, daß er mit seinen Initialen abgekürzt werden kann. Praktisch, daß der Autor den Leser damit gleich zu einem Tier führt, dessen Attribute implizit der Hauptfigur zugeschrieben werden. Nachdem er öffentlichkeitswirksam einen brualen Serienmörder beinahe zu Tode geprügelt hat, lebt Wolf, wie er genannt wird, nach seiner Wiederaufnahme in den Dienst der Londoner Polizei in einer “klaustrophobisch engen Schuhschachtel” (S. 21). Sein Äußeres ist verwahrlost, sein Umgangston ruppig, und an Regeln hält er sich nur, wenn sie seinen Methoden nicht zuwiderlaufen. “Gibt es eigentlich eine Vorschrift, gegen die dieser Mensch nicht verstoßen hat?” (S. 371), fragt da seine Vorgesetzte zurecht. Dennoch ist der vom Leben gezeichnete Veteran der einzige, der den titelgebenden Ragdoll-Fall lösen kann … eine Rolle, die im Kino üblicherweise von Bruce Willis verkörpert wird.
Auf der Leinwand konzentriert sich für gewöhnlich auch die gesamte Aufmerksamkeit auf den Helden des Films, während die Welt um ihn herum verblasst. Nicht so im vorliegenden Roman:
“Wenn aufsehenerregende Fälle das Leben der Beteiligten zum Stillstand brachten, vergaß man leicht, dass der Rest der Welt ganz normal weitermachte.” (S. 47)
Wiewohl der Fall um eine aus den Teilen von sechs Leichen zusammengenähte menschliche Puppe ungewöhnlich bizarr ist, stehen der Polizei für seine Aufklärung nicht unbegrenzte Ressourcen zur Verfügung. Etliche andere Delikte müssen untersucht, Verwaltungsstrafen bearbeitet werden. Wolfs Kollegen sind chronisch überarbeitet, reagieren gereizt und sind weit von ehrfürchtiger Heldenverehrung entfernt. Sie kämpfen mit gewöhnlichen Widrigkeiten wie Verkehrsstaus, Bröseln auf der Tastatur und Fertigerichten, deren Verfallsdatum überschritten ist. Alle Figuren, Orte, Situationen wirken verbraucht, angeschlagen, wie von einer Patina aus Alltagsfrust überzogen. Bei Daniel Cole gibt es keine Helden, die Polizeiarbeit ist kein ins Glorreiche verklärtes Detektivspiel, und bei weitem nicht unter jeder rauhen Schale steckt auch ein weicher Kern. Strömender Dauerregen unterstreicht außerdem in den nicht seltenen Momenten der Niederlage die auf die Figuren einprasselnde Bedrückung.
Auch unter den Figuren gibt es keine deklarierten Sympathieträger, keine von ihnen agiert durchgehend moralisch integer, jede von ihnen ist zuweilen des Lesers Liebling, in anderen Momenten hingegen abstoßend. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem man jeden aus dem bekannten Personenkreis als Täter in Betracht gezogen hat. Wovon viele Autoren berichten, dürfte aber auch diesem widerfahren sein, nämlich daß Figuren sich gegen die Pläne ihrer Schöpfer zur Wehr setzen. Ganz offensichtlich sollte der vom Betrugsdezernat in Wolfs Team versetzte junge Detective Edmundsen vom ehrgeizigen Amateur-Profiler zum nervenstrapazierenden Musterschüler entwickelt werden. Das Vorhaben mißlingt, vermutlich, weil Edmundsen am besonnensten, am wenigsten cholerisch auf seine Kollegen reagiert.
Die im Klappentext beschriebene Ausgangssituation weckt eine initiale Neugier, die zum Buch greifen, sich in den Seiten verlieren läßt. Die größte Gefahr droht der Aufmerksamkeit des Lesers in jenem Moment, da der erste Sensationsdurst gestillt ist. Viele Autoren des Genres lassen an diesem Punkt ihren Serienmörder erneut zuschlagen. In “Ragdoll” kündigt er seine Taten anhand einer Liste an und erzeugt damit hohen Druck. Der nächste Mord ist nur eine Frage der Zeit. Zudem nimmt der Leser immer wieder an den Besprechungen der Ermittler teil, wird immer wieder mit der Aufstellung der tatsächlichen und potentiellen Opfer konfrontiert. Somit wird man bei der Lektüre förmlich zum Schlußfolgern und Mitraten gezwungen, möchte den Beamten Hinweise geben oder sie zur Vernunft auffordern, wenn sie sich wieder einmal gegenseitig anbrüllen anstatt ihre Kräfte zu bündeln.
Welch ein erhebendes Gefühl kann dem Leser zuteil werden, wenn seine Vermutung über den Täter sich schlußendlich als richtig herausstellt. Welche Bewunderung kann ihm ein geschickter Autor aber auch abringen, wenn die Hinweise so dezent plaziert werden und die Verwirrung so raffiniert gestiftet ist, daß der Leser rückblickend feststellt, wie präzise die einzelnen Puzzleteile ineinandergreifen. In diesem Fall verzeiht man sich auf der letzten Seite großzügig auch eine falschen Vermutung. In “Ragdoll” nimmt das Geflecht aus Personen und Motiven rund um den ursprünglichen Fall eines pyromanischen Mädchenmörders sukzessive konkretere Formen an, daß der Leser mit jedem neuen Indiz seinen aktuellen Verdacht neu bewertet. Dieses Geflecht dürfte für den Autor jedoch die Ausmaße eines gordischen Knotens angenommen haben, der nur mit einer Auflösung durchschlagen werden kann, die wie ein unerwarteter Themenwechsel wirkt: Der wahre Täter entpuppt sich nicht als ein Mitglied des bekannten Personenkreises und wird relativ spät eingeführt. Dazu verstärkt ein Abstecher ins Metaphysische den schalen Geschmack eines Stilbruchs.
Immerhin mündet die Jagd schließlich in einem filmreichen Showdown, der mit Symbolen überfrachtet aber gerade deshalb überaus passend ist.
Persönliches Fazit
“Ragdoll” ist ein hochspannender Debütroman, dessen Auflösung zwar nicht vollends befriedigt, der den Leser jedoch mit seiner bedrückenden Stimmung und einem verzwickten Fall zum Mitraten zwingt.
© Rezension: 2016, Wolfgang Brandner
Ein New-Scotland-Yard-Thriller 1
Thriller
Ullstein Verlag - ISBN: 9783548289199
2017
Klappbroschur, 480 Seiten
2 comments
Lieber Wolfgang,
ich muss ja sagen, dass ich mich auf dieses Buch schon einige Zeit gefreut habe und nur gutes erwartet habe. Eigentlich kenne ich auch nur gute Meinugen. Ab knapp der Hälfte habe ich es aber erstmal weggelegt, weil es mich tatsächlich irgedwann nur noch genervt hat und ich schon wieder Gefahr lief in eine Flaute abzudriften. Ich weiß nicht, ob es einfach nur an der damaligen Stimmung lag oder ob das Buch tatsächlich nichts für mich ist. Ich überlege noch, ob ich es nochmal probieren soll oder doch eher nicht.
Liebe Grüße
Petzi
Liebe Petzi,
danke für Deinen Kommentar.
Für den Moment kann ich nur mein Bedauern darüber ausdrücken, daß Du in einer Leseflaute steckst. Wir alle kennen diese Situation, die auf der anderen (also des Schreibers) Seite wohl so etwas wie eine Schreibhemmung sein dürfte. Da beginnt man Bücher, die man sich schon länger einmal vornehmen wollte und legt sie nach wenigen Seiten wieder ins Regal …
Vor allem aber ärgert's mich für Dich, daß es gerade bei diesem Roman eintritt, der nämlich für mich einer meiner persönlichen Höhepunkte des bisherigen Lesejahres darstellt. Ich habe es als hochspannend empfunden (Begründung dazu siehe oben in der Rezension) und würde auch Dir dieses Erlebnis gönnen.
Das klingt jetzt fast so, als würde ich Dir den Schwarzen Peter zuschieben wollen … nein, das ist natürlich nicht der Fall. Es ist einfach nicht jedes Buch für jeden Menschen in jedem Moment geeignet. Vielleicht fühlst Du Dich nur vom aktuellen Trubel um den Roman noch genervt, auch das ist möglich. In diesem Fall empfehle ich Dir: Laß' es momentan sein, wende Dich einer anderen Lektüre zu (vielleicht “The Girl Before”), und wenn Ragdoll dann als Taschenbuch erscheint, wird Deine Neugier wieder geweckt für den zweiten – erfolgreichen – Anlauf.
Einstweilen liebe Grüße
Wolfgang