Girl on the water ?
Mit Girl on the Train ist der britischen Autorin Paula Hawkins ein sentationeller Debüterfolg mit zahlreichen Übersetzungen und einer Verfilmung gelungen, wie ihn sich im Literaturbetrieb wohl nicht wenige erträumen. Geschickt hat sie dabei das verbreitete Faible für unzuverlässige Erzählerinnen mit dem diffusen Gefühl urban bedingter gegenseitiger Entfremdung kombiniert.
Wie aber komponiert man nach einem solchen Einstieg in die schrifstellerische Karriere seinen zweiten Roman, ohne als Eintagsfliege rasch wieder vergessen zu werden?
Paula Hawkins nimmt dabei am Setting von Girl on a Train mehrere Veränderungen vor. Zunächst ist Into The Water nicht mehr in der Gartenzaun-Vorortidylle einer Metropole, sondern in einem kleinen Dorf angesiedelt, in dem aufmerksame Zeitgenossen oft besser über den Tagesablauf ihrer Mitmenschen bescheid wissen, als den Beobachteten lieb ist. Angesichts des Orts ist die Erzählung nicht mehr nur auf wenige zentrale Persönlichkeiten fokussiert, sondern wartet mit einer Vielzahl von verschiedenen Figuren auf. Mit diesem Strukturmerkmal wird der Leser auch als erstes konfrontiert: Ausgehend von einem bestimmenden Ereignis, dem vermeintlichen Selbstmord einer jungen Frau, wird die weitere Entwicklung in kurzen Kapiteln jeweils in personaler Perspektive aus der Sicht eines einzelnen Charakters erzählt. Folglich dient der erste Abschnitt des Romans vorerst dazu, die betreffenden Figuren einzuführen, sie bei ihren angestammten, alltäglichen Aktivitäten darzustellen, die eigentliche Handlung bestenfalls andeutungsweise, in kleinen Schritten voranzutreiben. Gerade dieser Einstieg gestaltet sich für den Leser als sperrig, da er die vielen, innerhalb kurzer Erzählzeit eingeführten Namen im Gedächtnis behalten muß und noch nicht erahnen kann, wem eine Haupt- und wem eine Nebenrolle zufällt.
Auch die Erzählperspektive trägt nicht dazu bei, den Einstieg in den Roman zu erleichtern. Die Passagen der meisten Figuren werden in der ersten Person erzählt, sodaß dem Leser unmittelbaren Einblick in ihre Gefühle und Gedanken gewährt wird. Für andere hingegen wir die dritte Person verwendet, was naturgemäß Distanz schafft. Offensichtlich sollte durch eben diese Wahl der Perspektive die Figuren in zwei Gruppen geteilt werden, tatsächlich wird dadurch mehr Verwirrung gestiftet als beseitigt. Einzig Julia Abbot tritt immer wieder in der zweiten Person in einen Dialog mit ihrer verstorbenen Schwester Nel, was ihr die Rolle einer neutralen Instanz, eines Bezugspunktes für den Leser verleiht.
Ein weiterer Unterschied zu Girl on the Train besteht darin, daß diesmal bewußt keine unzuverlässige Erzählinstanz genutzt wird. Die Autorin verzichtet damit mutig genau auf jenes Stilmittel, das wesentlich zur Popularität des Erstlings beitrug und derzeit im Thrillergenre bevorzugt eingesetzt wird. Daß der Leser dennoch im Ungewissen über die tatsächlichen Vorgänge belassen wird, liegt an der Unvollständigkeit der individuellen Sichtweisen, jeder Erzähler kann immer nur einen Teil des Gesamtbildes liefern.
Während Paula Hawkins also die Chronologie der Ereignisse, die zum Tod von Nel Abbott führten, langsam aufrollt, portraitiert sie mit scharfem Blick und spitzer Feder die Lebensbedingungen in einem kleinen Dorf, wo eine überschaubare Anzahl von Menschen auf begrenztem Raum einander tagtäglich begegnen. Dem distanzierten Desinteresse am anderen, mit dem in der Stadt unsichtbare Mauern errichtet werden, stellt sie die kaum verhohlene Neugier kleinerer Ortschaften gegenüber.
Into the Water ist ein Beispiel dafür, daß ein mit hohen Erwartungen beladener Roman, eingesprochen von hochkarätigen Sprechern, nicht notwendigerweise zu einem außergewöhnlichen Hörbuch führt. Besonders in der vorgelesenen Version ist es eine Herausforderung, zu Beginn den Überblick über die zahlreichen Figuren und deren Beziehungen zueinander zu bewahren. Daher empfiehlt es sich, für die ersten beiden Stunden Papier und Bleistift bereitzuhalten … was zwar dem Verständnis der Geschichte, nicht jedoch dem entspannten Genuß eines Romans zuträglich ist. Die Aufteilung der Sprecherrollen erfolgt nach dem einfachsten denkbaren Schema: Britta Steffenhagen leiht den weiblichen Figuren ihre Stimme, Simon Jäger den männlichen. Diese Gruppierung zieht zusätzlich eine künstliche Linie und wirft Fragen auf, die der Roman nicht beantworten kann. Fragmente einer Chronik über die ertrunkenen Frauen von Beckford, für die Nel Abbott recherchiert hat, werden außerdem durch eine dritte Sprecherin, Marie Bierstedt, hervorgehoben. Im Interesse der Konsistenz des Hörbuchs wäre es wahrscheinlich günstiger gewesen, lediglich diese Unterscheidung zwischen Chronik und Handlung zu akzentuieren. Des weiteren ist Britta Steffenhagen mit ihrer kratzigen, sich in den Höhen überschlagenden Stimme nicht für alle Figuren gleichermaßen geeignet. Jugendliche oder aufmüpfige Charaktere wie Lena Abbott oder die verschrobene Nici Sage treten durch Steffenhagen wahrlich aus dem Roman hervor, erwachsenere, nüchterne wie Erin Morgan wirken dagegen in ihrem Wesen verfälscht.
Persönliches Fazit
Ohne Girl on the Train wäre Into the Water eine Studie über dörfliche Borniertheit anhand eines mysteriösen Todesfalls. So aber ist es der gefürchtete zweite Roman, dem die Erwartungshaltung der Leserschaft zu hoch hängt.
© Rezension: 2017, Wolfgang Brandner
Random House Audio - ISBN: 9783837137491
2017
Hörbuch (gekürzt), 2 mp3-CDs, ca. 627 Min.
8 comments
Hallo Wolfgang,
mir ging es ganz ähnlich – das Hörbuch konnte mich leider nicht überzeugen.
Ich wünsche dir ein schönes Wochenende!
Inga
Liebe Inga,
danke für Deinen Kommentar!
Wenn Du schreibst, daß Dich das Hörbuch nicht überzeugen konnte, dann klingt das ja so, als hättest Du es auch gelesen 😉
Einen derartigen Vergleich Print- vs Hörbuch könnte ich mir ja gerade in diesem Fall gut vorstellen, denn ich mußte mir am Anfang die Namen aller Figuren und deren Beziehungen zueinander aufschreiben, um den Überblick nicht zu verlieren. Vielleicht nähme man die Geschichte generell anders auf, wenn wie bei einem (Lese-)Drama ein Figurenverzeichnis bereitgestellt würde.
Aber wenn Du in diesem Jahr etwas mit “Girl on a Train” Vergleichbares suchst, kann ich Dir “The Girl Before”, für uns von Marcus rezensiert (https://www.buecherkaffee.de/2017/05/rezension-girl-before-jp-delaney_31.html) empfehlen.
Schau bald wieder bei uns vorbei, liebe Grüße
Wolfgang
Hallo 🙂
mich konnte schon Girl on the train nicht vollends überzeugen und ich habe den Hype nicht so ganz verstanden. Trotzdem werde ich mir demnächst mal den Film ansehen, vielleicht wird mich dieser noch überraschen.
“Into the water” wird es dann wohl auch nicht in mein Regal schaffen.
Ein schönes Restwochenende noch 🙂
Liebe Grüße
Anna
Hallo Wolfgang
Mir hat INTO THE WATER als Buch gut gefallen. Girl on the Train fand ich jedoch besser.
Als Hörbuch kann ich mir jedoch beide Werke schlecht vorstellen. Britta Steffenhagen schätze ich sehr als Sprecherin. Ich mag ihre angenehme Stimme gerne. Jedoch hat das, wie du schon schreibst, nichts zu sagen. Paula Hawkins Geschichten leben überwiegend von dem Kopfkino, das sie erzeugen. Den Gedankengängen der Protas. Das ist sehr schwierig auf einem Hörbuch zu vermitteln. Kopfkino erzeugt zwar jedes Buch, (zumindest sollte es das,) aber bei INTO THE WATER passiert es auf eine Weise, die ich lesen will. Trotzdem bin ich jetzt neugierig geworden und werde in das Hörbuch mal hineinhören.
Liebe Grüße,
Gisela
Liebe Anna,
ich muß zugeben, den Film habe ich nicht gesehen … wohl auch, weil die große Überraschung der Geschichte keine mehr ist, wenn man das (Hör-)Buch kennt. Sollte der Film durch einen kreativen Moment des Regisseurs noch einen Twist gewonnen haben, so kann ich Dir nur viel Vergnügen dabei wünschen.
Allerdings bitte ich Dich zu beachten, daß man von “Girl on the train” nicht auf “Into the water” schließen kann, die Geschichten unterscheiden sich doch deutlich voneinander. Wenn Dir also der erste Roman von Paula Hawkins nicht gefallen hat, muß das nicht auch notwenigerweise auf den zweiten zutreffen … gib dem Drowning Pool also noch eine Chance 😉
Liebe Grüße
Wolfgang
PS: Wenn Du den Film gesehen hast, laß' mich wissen, ob es sich auszahlt, ihn anzusehen. Danke!
Hallo Gisala,
es freut mich, wenn ich Deine Neugier für das Hörbuch wecken konnte. Ich selbst habe Girl on the Train nicht gelesen, wohl aber als Hörbuch genossen. Und es war ein Genuß, vor allem deshalb, weil die Sprechrollen sinnvoll verteilt waren. Drei Protagonistinnen – drei Sprecherinnen, und jede von ihnen konnte der jeweiligen Figur ganz eigene Charakterzüge und vor allem Wiedererkennungswert verleihen. Sofort, wenn die Stimme wechselte, war klar, daß nun wieder aus der Sicht einer anderen Figur erzählt wird.
Das Hörbuch zu “Into The Water” leidet meiner Ansicht nach hauptsächlich daran: Die Sprechrollen sind nicht nach Figuren, sondern nach Geschlecht verteilt. (Wohl, weil zu viele verschiedene Figuren vorkommen und es ein Hörspiel geworden wäre, hätte man das konsequent umgesetzt). Eine solche Verteilung ergibt sich aus der Logik der Geschichte keineswegs und trägt auch nicht dazu bei, sich in der Menge der Figuren zu orientieren.
Wenn Du aber das Hörbuch ausprobierst, hast Du ja den direkten Vergleich. Ich würde mich freuen, wenn Du uns kurz Deine Eindrücke dazu schilderst.
Bis dahin liebe Grüße
Wolfgang
Danke, für die tolle Rezi, mit dem Hörbuch bin ich auch am Hadern!
Wir würden uns freuen, wenn Du uns besuchst =)
Neri von Leselaunen
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