Komplex-konstruierter Nervenkrieg im Finale
Wir erinnern uns, Schwesterherz, der erste Teil der Geschichte endete mit einem offenen Ausgang, an dem … ja, was eigentlich?
Es soll ja Zeitgenossen geben, die es fertigbringen, die beiden neuen Romane von Kristina Ohlsson nicht unmittelbar hintereinander zu verschlingen. Für eben jene werden gleich zu Beginn die bisherigen Ereignisse zusammengefaßt – die zwar das Gedächtnis auffrischen, nicht jedoch die Lektüre ersetzen sollen.
In der Struktur erzeugt die Autorin Konsistenz, indem sie dem bewährten Konzept treu bleibt: Die Erzählung versteht sich als ein Rückblick der Hauptfigur Martin Benner auf den Fall der verurteilten Mörderin Sara Tell, unterbrochen immer wieder von Auszügen eines Interviews mit einer Stockholmer Journalistin. Dies stattet die Figur einerseits als Akteur mit jeweils situativem, als auch als erzählende Instanz mit dem gesamten Wissen über den weiteren Verlauf aus, während die Einschübe immer wieder den Bezug zum gewählten Erzählrahmen herstellen und gleichzeitig als Zäsur wirken, um Spannung aufzubauen. Außerdem liefert diese Form (möglicherweise unbeabsichtigt) die Information, daß Martin Benner das Ende der Geschichte überleben wird …
Zentrales Element in Schwesterherz war die charakterliche Entwicklung der Hauptfigur vom hedonistischen Lebemann zum verantwortungsbewußten Vater seiner vierjährigen Adoptivtochter. In “Bruderherz” ist Martin Benner von Beginn an sorgenbeladen und lebt nach seinem Kontakt mit dem Verbrecherpaten Lucifer in ständiger Angst. Er leidet unter Schlaflosigkeit, überinterpretiert alltägliche Banalitäten und verfügt inzwischen über eine Sammlung von Einweg-Mobiltelephonen, mit denen er Überwachung durch die Polizeit vermeiden will.
“Es ist ein Geschenk, den ständigen Schrecken und Ängsten der Kindheit entwachsen zu sein und die Dinge besser einschätzen zu können. Das hat allerdings den einen Nachteil, dass es uns nur umso schmerzhafter bewusst macht, wovor es sich tatsächlich lohnt, Angst zu haben.” (S. 21)
Diese Wandlung ist also weitgehend abgeschlossen, womit Kristina Ohlsson neue Herausforderungen für ihren Protagonisten erkunden muß. Zunächst jedoch läßt sie die Situation weiter eskalieren, erhöht den Druck auf Benner. Dies gelingt ihr unter anderem auch, indem sie ein wesentliches Strukturelement des ersten Teils in die Geschichte hineinzieht. Fredrik Ohlander, jener Journalist, der in “Schwesterherz” für das Interview mit Benner verantwortlich zeichnete und somit immer wieder den distanzierten Blick von außen herstellte, wird nämlich ermordet aufgefunden. Damit fließen bewußt Form und Inhalt ineinander, die Bedrängnis Benners ist derart massiv, daß diese Trennung nicht mehr gewährleistet werden kann.
Diese Bedrängnis manifestiert sich im vorliegenden zweiten Teil der Geschichte vordringlich durch die persönliche Involvierung der Hauptfigur in den Fall. Die Verbindung ist – wie so oft – in der Vergangenheit zu finden, als Martin Benner am Beginn seiner beruflichen Laufbahn noch kein Staatsanwalt in Schweden, sondern Streifenpolizist in Texas war. Seine Suche nach dem verschwundenen gemeinsamen Sohn von Sara Tell und Lucifer führt ihn dabei notwendigerweise wieder in die USA zurück – an jenen Ort, an dem er damals einen Mord beging.
All den Ereignissen liegt nämlich ein ausgeklügelter Masterplan des Verbrecherkönigs zugrunde, dessen Ziel die persönliche Vernichtung Benners ist. Angesichts der zahlreichen Variablen, die es dabei zu berücksichtigen gilt und des langen Zeitraums zu dessen Umsetzung muß dieser jedoch einem überlegenen Intellekt entsprungen sein … oder ist von seiten der Autorin schlicht sehr weit hergeholt. Dazu kommt, daß jene Figur, die sich hinter dem diabolischen Pseudonym verbirgt, erst nach etwa drei Viertel der gesamten Geschichte eingeführt wird. Somit besteht also nach der Lektüre von “Schwesterherz” keine Möglichkeit, mit einem Tip auf eine der bereits eingeführten Figuren richtig zu liegen, was so manchen Leser enttäuschen dürfte.
Bis jedoch das Geheimnis um die Identität Lucifers gelüftet wird, ist Martin Benner – parallel zu “Schwesterherz” – mit einem Auftrag betraut, nämlich Sara Tells verschwundenen Sohn aufzuspüren. Dieser erweist sich als ein kontinuierliches Neubewerten der vielen Einzelinformationen, die auf ihn einprasseln. Wie Benner seinen nicht immer zuverlässigen Informanten, ist der Leser dabei der Autorin hilflos ausgeliefert. Immerhin verarbeitet Kristina Ohlsson diesmal die zahlreichen Details zu mehreren, gleichermaßen glaubhaften Szenarien, mit denen sich jedes Mal eine neue Konstellation aus Motiven, Tathergang und Identität der Täter ergibt. Im ständigen gedanklichen Experimentieren baut sich die Spannung subtil wie ein Sturm auf, der erst Blattwerk vor sich hertreibt, um schließlich seine unentrinnbare Kraft zu entfachen und eine erfrischende Reinheit zu hinterlassen. Symptomatisch konstatiert Martin Benner vor der finalen Konfrontation:
“Man ist nie einsamer als ein einem Hotelzimmer. Hier war ich ein Soldat ohne Alliierte. Ohne Waffen. Ohne Antworten auf drängende Fragen.”
Persönliches Fazit
Die Geschichte, die sich über zwei Bände zieht, wirkt wie eine längere Reise, bei der das Fahrzeug mit zu wenig Benzin betankt wurde. Mit dem Raketentreibstoff, der sich im Reservekanister findet, gelangt man zwar ans Ziel, wird aber auf dem letzten Abschnitt noch einmal in die Sitze gepreßt.
© Rezension: 2017, Wolfgang Brandner
Thriller
Limes Verlag - ISBN: 9783809026679
2017
Paperback, 448 Seiten