Dem Volk aufs Maul geschaut
Eine interessante Hausgemeinschaft hat Maik Siegel für seinen Roman zusammengestellt. Vom smarten Ami, der sich gern auf Grindr herumtreibt, über die aus Kenia stammende Migrationsfamilie bis hin zum Rentnerpaar, die überwachen, was die Nachbarn so treiben und falsch machen, ist einiges dabei, was unsere Gesellschaft widerspiegelt. Die Unterschiede bieten viel Konfliktpotenzial, man belauert sich eher gegenseitig als sich miteinander anzufreunden.
„Ott schien aus zwei Gründen zu atmen: um zu schreiben und um zu spotten. Im Haus war er gefürchtet – entsprächen Nachbarn Katastrophen, Ott wäre Tschernobyl: Wo er wandelte, wuchs kein frohes Leben mehr.” (S. 16)
Inga kommt auf die Idee, einen Flüchtling bei sich und ihrem Partner aufzunehmen. Sie beräumt eine Versammlung der Bewohner ein, um ihren Vorschlag zu unterbreiten. Dass sie dabei nicht nur auf Zustimmung stößt, war zu erwarten. Der eine oder andere sieht seine Wohlfühlzone bedroht. Aber natürlich will keiner als schlechter Mensch dastehen und man lässt den Syrer einziehen. Man behält sich jedoch ein „das habe ich doch gleich gesagt” vor, denn wie bei der sich selbst erfüllenden Prophezeiung geht man davon aus, dass es Probleme geben wird.
Durch die über Jahre präsenten Bilder des Krieges in Syrien neigt man dazu, diesem Konflikt gegenüber abzustumpfen. Die unübersichtliche Lage dort macht es nicht leicht, sich zu positionieren. Wie begegnet man einem, der Krieg und Flucht hinter sich hat? „Flüchtling” klingt immer so nach einem unmündigen Menschen, der nichts hat und nichts kann. Wenn man genauer hinsieht, merkt man schnell, dass das nicht so ist. Samihs neue Nachbarn bleiben aber erstmal auf Distanz, und das nicht nur, weil er kein Deutsch kann. Sie wissen einfach nicht, wie sie ihm begegnen sollen.
„Wenn du verstehen willst, wie Samih sich gefühlt hat, musst du versuchen, dir etwas vorzustellen, was du dir eigentlich nicht vorstellen kannst. Das macht es für viele so schwierig, die Geschichten der Flüchtlinge zu verstehen und ihr Schicksal zu akzeptieren.” (S. 214)
Die Ignoranz und die Besserwisserei der Nachbarschaft regt zum Nachdenken und Reflektieren an. Maik Siegel kreiert pointierte Situationen ohne sie zu überspitzen. Die verschiedenen Ansichten der Bewohner begegnen mir im echten Leben auch, die sind gut beobachtet. Die Dialoge unter ihnen brachten mich öfter zum Schmunzeln, sie sind einfach treffend formuliert. Der Ton wird trotz des Themas nicht schwer, das Buch lässt sich flott lesen und ist unterhaltsam. Und für ein paar Wendungen, vor allem in den Ansichten einiger Protagonisten, ist auch gesorgt.
Persönliches Fazit
„Hinterhofleben” setzt sich mit dem Schicksal von Flüchtlingen und ihrer Situation bei uns auseinander. Die Ansichten der Nachbarn spiegeln viele Meinungen und Ängste der Deutschen wider. Durch die gute Beobachtung der Hausgemeinschaft und den leichten Erzählton hat mich der Roman sowohl gut unterhalten als auch zum Nachdenken angeregt.
© Rezension: 2018, Marcus Kufner
Roman
Divan Verlag - ISBN: 9783863270469
2017
broschiert, 256 Seiten
5 comments
Hallo Marcus,
Mit dem Buch habe ich auch schon eine Weile liebäugelt, denn das Thema finde ich sehr interessant. Aber beim Lesen der Leseprobe hab eich eigentlich gedacht, dass der Schreibstil nicht so meins ist. Jetzt hast du mich durch die positive Rezension aber wieder sehr neugierig gemacht. Und die Erfahrung zeigt ja auch eigentlich, dass ich deinem Urteil vertrauen kann. 😉 Hm, jetzt bin ich ganz hin- und hergerissen. Aber ich denke, das Buch kommt mal auf die Wunschliste. 🙂
Liebe Grüße und einen guten Start in 2018 wünsche ich dir.
Julia
Liebe Julia,
dir auch noch ein gutes neues Jahr mit viel spannendem Lesestoff!
Tut mir leid, dass ich dich jetzt durcheinander gebracht habe 😉
Die psychologische Komponente ist für dich als Frau vom Fach bestimmt interessant. Ob dir das Buch insgesamt gefällt, weißt du aber natürlich erst nach dem Lesen.
Viele Grüße,
Marcus
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