Mit „Das Leben des Vernon Subutex” hat Virginie Despentes einen beachtenswerten Roman über den derzeitigen Zustand der französischen Gesellschaft vorgelegt. Ihre schonungslose und ungeschminkte Ausdrucksweise, mit der sie den Abstieg ihres Helden beschreibt, hat mich sehr angesprochen. Klar, dass ich Vernons weiteren Weg mitverfolgen will.
Nachdem Vernon sich im ersten Buch bei verschiedenen Freunden und Bekannten einquartiert hatte, aber immer auch weiterziehen musste, landete er am Ende auf der Straße. In einem Stadtteil von Paris finden wir ihn nun wieder, wo er sich so gut es geht eingerichtet hat. Er ist selbst erstaunt, wie schnell er sich an ein Dasein ohne festen Wohnsitz gewöhnt hat. Eine Dusche hin und wieder wäre zwar schön, aber beengt in Räumen zu wohnen kann er sich nicht mehr vorstellen.
Im ersten Teil haben wir eine Menge Freunde und Bekannte von Vernon kennen gelernt. Es ist zur Auffrischung sehr hilfreich, dass hier im zweiten Band vorweg nochmal eine Auflistung von den Wichtigsten zu finden ist. Die meisten von ihnen tauchen hier nämlich auch wieder auf. Nachdem sie davon gehört haben, dass Vernon auf der Straße sitzt, plagt sie das Gewissen. Das wollten sie ja auch nicht, da kann er gerne nochmal bei ihnen unterkommen. Sie tun sich also zusammen und suchen Vernon. Der denkt allerdings gar nicht daran, wieder irgendwo einzuziehen. Daher trifft sich die inzwischen ziemlich große Gemeinschaft regelmäßig im Park und in der benachbarten Kneipe. Diese Treffen höchst unterschiedlicher Personen werden schnell zu Kult, und Vernon ist der Mittelpunkt. Eine interessante Entwicklung.
Vernon selbst steht hier im zweiten Band gar nicht im Mittelpunkt. Der größte Teil des Romans beschäftigt sich mit seinen Freunden, deren Leben sich im Park überschneiden. Da wir die meisten bereits aus dem ersten Teil kennen, fehlt das Neue dabei. Ich hatte auch das Gefühl, dass die Geschichte sich eher seitwärts als vorwärts bewegt. Das führt zu einigen Längen. Das liegt aber auch daran, dass einiges von dem Biss des ersten Teils verlorengegangen ist. Despentes beschreibt zwar immer noch treffend den Riss, der durch die französische Gesellschaft geht, scharfsinnige Formulierungen sind aber seltener zu finden.
„Das ist heute das nationale Mantra: Ruhm für den Schwachsinnigsten, Ehre für den Brutalsten. Und die Frauen schreien am lautesten. Sie mögen keine sensiblen Männer. Sie wollen Ohrfeigen, eiserne Hand, einen Kerl im Unterhemd, der rülpsend vor dem Fernseher sitzt und fragt, was es zu fressen gibt.” (S. 158)
Die Musik spielt auch wieder eine große Rolle. Der Monolog des verstorbenen Sängers Alex Bleach, den er selbst vor seinem Tod auf Video aufgenommen hat, ist eine Abrechnung mit den Entwicklungen in der Musikindustrie. Despentes bringt aber auch wieder Sound ins Buch, vor allem gegen Ende. Da heißt es Playlist an, das fördert die Atmosphäre.
Persönliches Fazit
Auch im zweiten Teil von „Das Leben des Vernon Subutex” beschreibt Virginie Despentes treffend das, was in der französischen Gesellschaft schiefläuft. Allerdings sind die scharfsinnigen Spitzen seltener, was auch zu einigen Längen führt. Deshalb konnte mich diese Fortsetzung nicht mehr ganz so mitreißen wie der erste Teil.
© Rezension: 2018, Marcus Kufner
Roman
Verlag Kiepenheuer & Witsch - ISBN: 9783462050981
2018
gebunden, 400 Seiten