Rezension: Der Gott jenes Sommers | Ralf Rothmann

by Marcus Kufner
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Der Gott jenes Sommers 1

Ein Kind im Krieg: Anfang 1945 muss die zwölfjährige Luisa Norff mit ihrer Mutter und der älteren Schwester aus dem bombardierten Kiel aufs Land fliehen. Das Gut ihres Schwagers Vinzent, eines SS-Offiziers, wird ein unverhoffter Raum der Freiheit: Kein Unterricht mehr, und während alliierte Bomber ostwärts fliegen und immer mehr Flüchtlinge eintreffen, streift die Verträumte durch die Wälder und versucht das Leben diesseits der Brände zu verstehen: Was ist das für eine Beunruhigung, wenn sie den jungen Melker Walter sieht, wer sind die Gefangenen am Klostersee, wohin ist ihre Schwester Billie plötzlich verschwunden, und von wem bekommt die Perückenmacherin eigentlich die Haare? Und als ihr auf einem Fest zu Vinzents Geburtstag genau das widerfährt, wovor sich alle Frauen in jenen Tagen fürchten, bricht Luisa unter der Last des Unerklärlichen zusammen. [© Text und Cover: Suhrkamp Verlag]

Die Zeit der Unschuld scheint vorbei zu sein für Luisa. Der Krieg nähert sich seinem Ende, die deutschen Soldaten werden an den Fronten aufgerieben, die Städte bombardiert und Menschen vertrieben. Eine sorglose Kindheit ist unter den Umständen kaum möglich für die Zwölfjährige. Immer mehr Flüchtende werden dem Gut zugeteilt, die Nahrungsmittel werden knapper. Sie sieht so vieles und kann die Zusammenhänge doch kaum verstehen.

Mir erscheint es absurd, dass in dieser Situation Leute immer noch an den „Endsieg“ glauben. Ist das Naivität oder Wunschdenken? Wahrscheinlich ist es eine Auswirkung der Propaganda, die noch ganz gut funktioniert. Solange die Nazis an der Macht sind, wird auch der Untergang mit großer Sorgfalt verwaltet. Und sie feiern. Mir ist es schleierhaft, wie die Verantwortlichen die hungernde und leidende Bevölkerung ausblenden können und sich die Ranzen vollschlagen mit den feinsten Speisen und Getränken, wo auch immer sie die auftreiben.

»Kinder, genießt diesen Krieg; der Frieden wird furchtbar werden.« (S. 155)

Ralf Rothmann erklärt nicht, was Luisa sieht, er beschreibt es nur. Wer beispielsweise die ausgemergelten Gestalten in Sträflingskleidung sind, die die zerbombten Straßen flicken, kann ich mir selber denken. Der Text macht auf diese Weise einen undramatischen Eindruck, wirkt aber umso mehr bei mir nach. Die lebendige Charakterisierung und die eindrucksvolle Beschreibung der Atmosphäre auf dem Gut erzeugen bei mir Bilder, die mich sehr nah heranbringen an die Geschehnisse und Entbehrungen – praktisch Kino im Kopf.

Der Gott jenes Sommers 2

Luisas Erlebnisse werden durch kurze Kapitel unterbrochen, die von einem Schreiber während des 30jährigen Krieges verfasst wurden. Da fällt mir sofort die grandiose Sprache auf, die wie aus dieser Zeit klingt:

Nackt und zerschlagen blieben wir zurück, frierend neben den Trümmern der Öfen, und fortgetragen wurde mit allem die Hoffnung, dass der Mensch dem Menschen nicht nur Bestie wäre, dass er ihm auch Trost sein könnte. (S. 54)

Die Parallelen ziehen sich von damals noch bis heute. Bei all der Gewalt und dem endlosen Tod bleibt die Moral auf der Strecke. Zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind, wenn es die Situation erlaubt, ist aus meiner Sicht kaum nachvollziehbar. Und doch gibt es auch in Kriegszeiten welche, die trotz des Gemetzels um sie herum Werte erhalten wollen. Werte, die auch in unserer so fortschrittlichen Zivilisation leider nicht selbstverständlich sind.

 

Der Gott jenes Sommers 3

 

Persönliches Fazit

Ohne moralische Keule aber sehr eindringlich schildert Ralf Rothmann die Zeit kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Gerade die leisen Töne sind es, die bei mir nachhallen und mich das Wesen des Menschen in diesem Zusammenhang reflektieren lassen. Damit hat mich „Der Gott jenes Sommers“ sehr beeindruckt.

© Rezension: 2018, Marcus Kufner

 

Der Gott jenes Sommers
Ralf Rothmann
Roman
Suhrkamp Verlag – ISBN: 9783518427934
2018
gebunden, 254 Seiten
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Der Gott jenes Sommers – Ralf Rothmann | Gedankenglas 23. September 2018 - 7:39

[…] von Bücherkaffee lobt das Buch wegen seiner leisen […]

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