Wilfried spürt, dass es zu Ende geht. Er ist ein sehr alter Mann und will etwas zurücklassen. Deshalb schreibt er für seinen Urenkel seine Geschichte auf, an der wir als Leser teilhaben können. Er legt dabei mehrere Fäden aus: so ist sein Sohn schon gestorben, und mit einer Enkelin ist auch etwas Dramatisches passiert. Vor allem berichtet er aber von der Zeit, als die Deutschen Antwerpen besetzt hatten, denn wie so viele andere hat das ihn und seinen Lebensweg geprägt.
Wilfried war kein Held. Er hat sich den Besatzern nicht in den Weg gestellt oder ist in den Untergrund abgetaucht, um für die Freiheit zu kämpfen. Wie die allermeisten hat er versucht, sich mit der Situation zu arrangieren, sich auf seine Angelegenheiten zu fokussieren.
Mach einfach weiter wie bisher, alles wird sich zeigen. Die Fahnen in der Stadt, die vielen Uniformen und Kneipen voll Soldaten. Alles normal. Man kann die Sucht nach der Normalität in einer solchen Zeit beinahe schon riechen, und das menschliche Anpassungsvermögen kommt einem dabei auf merkwürdige Weise zustatten. (S. 64)
Als Polizist kann er sich allerdings nicht allen Reibungspunkten entziehen. Für Recht und Ordnung soll er sorgen, aber was ist, wenn sich ein deutscher SS-Mann austobt? Wegsehen? Dazwischengehen? Da kommt man ganz schnell in Schwierigkeiten. Dass Querulanten in Lager verbracht werden, hat sich auch schon herumgesprochen. In diesem Spannungsfeld bewegt sich Wilfried täglich.
Als Wilfried und sein Kollege eingeteilt werden, eine jüdische Familie abzuholen, sind sie empört. Frauen und Kinder? Was können die denn getan haben? Der Antisemitismus ist weit verbreitet und viele finden es gut, dass die Deutschen durchgreifen und die Stadt „säubern“. Wilfried gerät auch hier zwischen die Extreme: er soll einerseits für die Kollaborateure spionieren und andererseits helfen, Juden zu verstecken. Spielt er dabei auf clevere Weise ein doppeltes Spiel oder lässt er sich nur manipulieren? Es scheint jedenfalls unwahrscheinlich, dass er da unbeschadet herauskommt.
Die Spannungsfelder, in denen Wilfried sich bewegt, bieten viel Potenzial für einen packenden Reißer. Das ist „Weil der Mensch erbärmlich ist“ aber nicht. Der Roman stürmt nicht von einem Höhepunkt zum nächsten, er wirkt auf mich dramaturgisch eher flach. Es gibt auch nicht viele Momente, in denen ich mit Wilfried mitleide, Olyslaegers legt es also auch nicht darauf an, große Emotionen zu wecken. Der Reiz von Wilfrieds Erzählung liegt eher darin, in die Zeit und den Ort einzutauchen und ein Bild davon zu erzeugen, wie es war, in einer besetzten Stadt in Kriegszeiten mit all den Einschränkungen und Entbehrungen zu leben. Und was die vielen Widersprüche aus einem Menschen machen, der doch eigentlich nur ein ganz normales Leben führen will. Es ist gerade dieses Echte, nicht Übertriebene, das mich beeindruckt hat und sicher noch länger nachwirken wird.
Persönliches Fazit
Mein erster Gedanke war, dass man aus diesem spannenden Szenario wesentlich mehr Dramatik herausholen könnte. Aber gerade dadurch, dass es Olyslaegers nicht übertreibt und nicht schwarz-weiß malt, macht die Geschichte mit all ihren Widersprüchen nachvollziehbar und hat mich damit nachhaltig beeindruckt.
© Rezension: 2018, Marcus Kufner
Roman
Dumont Buchverlag – ISBN: 9783832198763
2018
gebunden, 360 Seiten