Eine junge Journalistin zieht von Berlin nach Wien, die Stadt des Stephansdoms und der Kaffeehauskultur, von Sigmund Freud und Arthur Schnitzler, der Melange, Sachertorte und der Mannerschnitten, der Fiaker und der Schrammeln, der dauergrantelnden Hausmeister, der charmanten Strizzis, und der Hofräte, wo zu Walzerklängen die Weinseligkeit und alte kaiserliche Romantik ineinanderfließen. Besonders interessant gerade für österreichische Leser ist dabei der Blick von außen auf als selbstverständlich Empfundenes (“… Ordination, wie man in Wien sagte …”). Erstaunlich wenig der gängigen Bilder ist in Melanie Raabes neuem Roman zu finden. Für ihre Protagonistin Norah Richter ist die österreichische Hauptstadt in erster Linie in eine morbide Fin de siècle-Atmosphäre getaucht, der Tod ist in all seinen symbolischen Vorboten ein omnipräsenter Zeuge des Geschehens:
“Edvard Munchs Vision von einem Wien, ein Finsterwald aus Asphalt, verzerrt und bedrohlich. Norahs leere Wohnung, die Düsternis der Straßen. Die Passanten mit ihren Smartphones, die Melancholie, die wie ein schmieriger Film über allem lag, allumfassend und unsichtbar.” (S. 16)
Der Beginn eines neuen Lebensabschnitts ist für Norah zugleich ein Abschied von den Umständen und Gewohnheiten des vergangenen. Die Umzugskartons sind noch nicht ausgepackt, die neue Wohnung muss ebenso erst neu gestaltet werden wie ihr Alltag. Die Leser lernen Norah als einen kreativen, entdeckungsfreudigen Geist kennen, als prototypische Vertreterin einer Generation, die ihre Umgebung einer permanenten Prüfung auf Social Media-Tauglichkeit unterzieht und die Welt via Hashtag ungefragt an ihrem Gefühlsleben teilhaben lässt. Ihr trotziges Eintreten für Gerechtigkeit verleiht ihr etwas Kurzsichtig-Kindliches, in ihrem Gegensatz aus Rebellion und Kulturaffinität fügt sie sich nahtnlos in die Wiener Bobo-Gesellschaft. (Der selbstbewusste Individualismus wirkt dabei paradoxerweise geradezu affirmativ.) Gleichzeitig kokettiert die Autorin auch bewusst mit dem derzeit inflationären Typus der unzuverlässigen Erzähler-Girls: Norah lehnt selten ein Glas Wein ab und kennt die Wirkung bewusstseinsverändernder Substanzen aus eigener Erfahrung.
Die knapp 70 kurzen Kapitel bilden ein Mosaik einzelner Begebenheiten und Situationen in den Tagen in Norahs Leben bis zum schicksalhaften 11. Februar. In dieser Gesamtheit konstituieren die einzelnen Bestandteile zur Erzählung des Romans. Selten knüpft eines an das unmittelbar vorausgehende an, die Sprünge in Zeit und Raum sind unberechenbar. Einzig die chronologische Ordnung ist gegeben, es entsteht der Eindruck eines sorgfälig kontrollierten Chaos’. Die urbanen Episoden, getaucht in Melancholie scheinen wie gedämpft und leicht verzerrt, beinahe surreal wie die Bilder eines Traumes.
Melanie Raabes Sprache ist bildreich und verspielt, bildet leicht und heißblütig einen Gegensatz zur winterlichen Kälte des Wiener Februars. Ihre Lieblingsmetapher aus “Die Wahrheit” (” … ließ den Satz auströpfeln …”) benutzt sie nur ein einziges Mal, wie um noch einen kurzen Blick zurück auf den Vorgängerband zu werfen.
“Doch dann glitt ihr Traum von ihr ab und landete zu ihren Füßen wie ein lässig abgeschütteltes Seidenkleid, und ihr wurde klar, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.” (S. 199)
“Die Einsamkeit füllte die Wohnung aus, als befinde sich plötzlich ein Eisberg in ihrem Wiener Appartement, bläulich weiß und hart wie Granit.” (S. 231)
Oft sind die Wortbilder pragmatisch knapp, dann wieder poetisch, definieren auf diese Weise das Selbstverständnis eines urbanen Menschen, für den Fortbewegung nicht mehr an den Besitz eines Autos gebunden ist, dessen Arbeits- und Freizeit ineinanderfließen, für den Twitter, Facebook und Instagram zu neuen Sinnensorganen geworden sind.
Durch die Prophezeihung, sie werde einen Mann namens Arthur Grimm töten, zutiefst verstört, begibt sich Norah auf die Suche nach eben diesem, um mögliche Verbindungen zwischen ihnen beiden zu ergründen. Dabei wird sie immer wieder von Kurznachrichten eines oder einer Unbekannten begleitet, die ihr Denkanstöße liefern, ihre Taten hinterfragen, sie anspornen oder zur Vorsicht mahnen. Norahs erste Verwunderung über den unsichtbaren Gesprächspartner ist rasch überwunden, sie begibt sich in einen Dialog mit ihm. Möglicherweise ist diese Reaktion nicht realistisch, möglicherweise würden die meisten diese Nachrichten ignorieren, vielleicht die Behörden einschalten. Norahs berufsbedingte Neugier und ihre soziale Isolation treiben sie jedoch geradezu in diesen Kontakt.
Der oft autoreflexive Inhalt dieser Zwiesprache erinnert gewiss nicht zufällig an die Kommunikation mit dem Unbewussten.
Tatsächlich könnte die Form eine zeitgemäße Versinnbildlichung des Zusammenwirkens der von Sigmund Freud skizzierten psychischen Instanzen sein. Am Schauplatz Wien ist bekannterweise auch die berühmte Berggasse zu finden … In Norahs Vergangenheit findet sich ein traumatisches Ereignis (im Auftakt des Romans nur kryptisch “die Katastrophe” genannt), das nicht vollständig verarbeitet in der Tiefe ihrer Seele lauert und nach Freudscher Diagnostik wieder ans Tageslicht drängt. Unbewusst steuert es ihre Auseinandersetzung mit der Prophezeihung, macht sie empfänglich für die Botschaften, die einen Zusammenhang dieses Ereignisses mit Arthur Grimm suggerieren.
Einen regen gedanklichen Austausch mit dem Begründer der Psychoanalyse pflegte auch Arthur Schnitzler. Beide kartographierten in ihren Werken die menschliche Psyche, der eine auf medizinische, der andere auf literarische Weise. Melanie Raabe könnte in Wien, ihrer beider Wirkungsstätte, ihrem Einfluss erlegen sein. Parallelen zu Schnitzlers “Traumnovelle” in Aufbau und Motiven sind möglicherweise nicht von der Autorin beabsichtigt, aber durchaus zu entdecken. Sowohl bei Schnitzler als auch bei Raabe irrt die Hauptfigur nachts durch die Gassen Wiens, um die eigenen Gedanken zu ordnen. Beide erhalten mit den Mitteln ihrer Zeit warnende Botschaften. Und natürlich ist in beiden Fällen das Unbewusste im Schlaf aktiv, um Ängsten eine Gestalt zu verleihen und Triebe auszuleben. Norah spielt mögliche Ausgänge des 11. Februar im Traum durch, verwendet dabei die “Tagesreste” (ein Begriff Sigmund Freuds aus seiner Traumdeutung) zur Gestaltung der Bilder. Dazu fügt sich auch der erwähnte Eindruck einer traumartigen, ansatzweise bizarren Wahrnehmung. Letztendlich fühlt sich die Auflösung für den Arzt Fridolin und die Journalistin Norah wie das Erwachen aus einem schweren Schlaf an.
Gibt es so etwas wie ein Schicksal, dem man nicht entrinnen kann, das einen einholt, gleichgültig, wie sehr man es zu vermeiden sucht?
Und wenn ja, kann es durch Visionen, Prophezeihungen, übersinnliche Begabung erahnt werden? Der Traum des Menschen, seine Zukunft zu kennen und entscheidend zu beeinflussen, ist ein zentrales, nachdenklich stimmendes Thema in “Der Schatten.” Steuert das Unbewusst unsere Handlungen, sodass wir geradezu auf die Erfüllung einer Vorausdeutung hinarbeiten? Am 11. Februar sollte Norah sich dringend vom Prater fern halten, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, einen Menschen zu ermorden. Stattdessen treibt ihre Neugier sie genau auf jenes Ereignis zu … womit sich die Assoziation zu einem weiteren Zeitgenossen von Schnitzler und Freud aufdrängt: Dem österreichisch-ungarischen Schrifsteller Ödön von Horvath wurde für den Beginn des Juni 1939 “das bedeutendste Ereignis seines Lebens” vorausgesagt. In Paris verweilend, weigerte er sich, das Auto zu benutzen … und wurde auf den Champs-Élysées von einem Ast erschlagen.
Ein abschließender Eindruck: Für österreichische Ohren mutet es verwegen an, in einem Wiener Kaffeehaus ein “Hörnchen” zu bestellen …
Persönliches Fazit
Kann man ein bestimmtes Ereignis in der Zukunft vermeiden, oder steuert das Unbewusste zielgenau darauf zu? Mit symbolhafter Sprache entlässt Melanie Raabe eine ganz auf diese Fragestellung zugeschnittene Hauptfigur in der Stadt Sigmund Freuds in eine entsprechende literarische Versuchsanordnung, in der die erzählerische Spannung aus dem Rätselhaften erwächst.
© Rezension: 2018, Wolfgang Brandner
Thriller
btb Verlag | ISBN: 978-3-442-75752-7
2018
Klappbroschur, 416 Seiten
btb Verlag / Randomhouse