Siebzig Jahre ist es her, dass Mela Hartwig (1893-1967) diesen Roman beendet hat, der jetzt erstmals veröffentlicht wurde. Gut so, denn ein solcher literarischer Schatz sollte nicht nutzlos und unbeachtet im Archiv liegen bleiben.
Ursula hat gerade ihr Abitur in der Tasche. Sie hat gute Chancen, in der Kunstschule aufgenommen zu werden und könnte damit ihren Traum, Malerin zu werden, verwirklichen. Es ist die Zeit des Anschlusses Österreichs an das Dritte Reich, und sie bekommt die Auswirkungen davon gleich zu spüren. Ihr Bruder folgt den Nazis bedingungslos und erwartet das auch von seinen Eltern und seiner Schwester. Das treibt einen Riss durch die Familie, denn damit ist es selbst in den eigenen vier Wänden nicht mehr möglich, anderer Meinung zu sein. Würde der eigene Bruder so weit gehen, seinen Vater oder seine Schwester zu denunzieren? Soll sie aufbegehren oder lieber so tun, als ob sie ihm brav folgen würde?
Durch die exzellente Beschreibung kann ich dieses Klima der Angst gut nachspüren. Eine Angst, die viele lähmt. Wer den Nazis nicht zujubelt, macht sich verdächtig. Ein falsches Wort zum falschen „Freund“ und man wird abgeholt und kommt nicht mehr zurück. In der Kunstschule verliebt sich Ursula in einen Mitstudenten, der im Widerstand aktiv ist. Irgendwann kann sie nicht mehr die Augen verschließen vor den brutalen Methoden der Nationalsozialisten. Ist es nicht ihre Pflicht, gerade als Künstlerin, sich dagegen aufzulehnen?
Du hast dich nicht nur zur Mitschuldigen gemacht, an jedem Verbrechen, das andere begangen haben, denn ein Verbrechen, das wir geschehen lassen, begehen wir selbst, Du hast dich nicht nur mit dem Blut besudelt, das andere vergossen haben, denn Du hast nicht nur geschehen lassen, was geschah, Du hast es gutgeheißen. Oder, hast Du die Stirne zu behaupten, daß Du blind warst, nur weil Du die Augen schloßest, daß Du nicht wußtest, was vorging, nur weil Du es nicht wissen wolltest? (S. 90)
Ursulas Zerrissenheit drückt sich in Visionen und surrealen Elementen aus. Sie scheint dem enormen Druck nicht gewachsen zu sein. Mela Hartwig gibt ihrer Hauptdarstellerin damit eine enorme Tiefe. Vor allem durch die persönliche Perspektive kann ich nachvollziehen, welche tiefgreifenden Folgen die Naziherrschaft für den Einzelnen hatte. Im Gegensatz zu reinen historischen Fakten ist es so für mich deutlich einfacher, mir ein Bild dieser Zeit zu machen. Und mir wird wieder mal bewusst, wie wertvoll unsere Freiheiten heute sind.
Mela Hartwig hat es hervorragend verstanden, sich auszudrücken. Auch wenn manche verschachtelten Sätze über eine halbe Seite lang sind, spüre ich gerne ihrer Bedeutung nach. Sie hat die Sprache so eingesetzt, dass die Stimmung und die Atmosphäre sehr eindringlich bei mir wirken. Trotz des bedrückenden Themas war „Inferno“ dadurch für mich ein besonderer Lesegenuss.
Persönliches Fazit
Es ist ein großer Gewinn, dass „Inferno“ veröffentlicht wurde. Eine literarische Perle, die eindrucksvoll und intensiv die Ängste während der Naziherrschaft darstellt. Und das in einer virtuosen Sprache, die mich begeistert hat.
© Rezension: 2018, Marcus Kufner
Roman
Literaturverlag Droschl – ISBN: 978-3-990-59020-1
10.08.2018
Gebunden
216
www.droschl.com