Fernöstliches Familienepos
Wir starten im Jahr 1910 in einem kleinen koreanischen Fischerdorf. Schon nach wenigen Seiten bin ich eingetaucht in diese ferne Welt und lerne Menschen kennen, deren Mentalität und Gepflogenheiten sich sehr von den unseren unterscheiden. Sunjas Eltern betreiben einen kleinen Logierbetrieb und leiden wie der Großteil der koreanischen Bevölkerung unter der japanischen Herrschaft. Es wird immer schwieriger, die Familie zu versorgen, viele sind unterversorgt. Es erscheint absurd, ausgerechnet nach Japan zu gehen, um der Armut zu entgehen. Aber eine große Wahl haben die Koreaner nicht, dem zunehmenden Elend zu entgehen.
Die Koreaner sind in Japan nicht gerne gesehen. Sie werden wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Beispielsweise stellen viele Betriebe generell keine von ihnen ein, weil für faul und durchtrieben gehalten werden. Da Wohnraum teuer ist, müssen sich ganze Familien mitsamt ihrem Vieh wenige Quadratmeter im koreanischen Getto teilen. Unter solchen Voraussetzungen ist es sehr schwer, sich eine lebenswürdige Existenz aufzubauen. Selbst Generationen später fühlen sich die Koreaner nicht heimisch, da sie deutlich weniger Rechte haben wie Japaner. Da droht schon bei geringen Gesetzesverstößen die Abschiebung nach Korea – in ein völlig fremdes Land.
In Seoul werden solche wie ich japanische Bastarde genannt, und in Japan bin ich immer weiter ein schmutziger Koreaner, egal, wie viel Geld ich verdiene oder wie nett ich bin. So ist das! (S. 432)
Es ist sehr packend zu verfolgen, wie Sunja und ihre Familie Wege sucht und findet, um über die Runden zu kommen. Min Jin Lee baut latent die großen historischen Ereignisse wie den Zweiten Weltkrieg oder den Koreakrieg in ihre Geschichte ein. Politische Einflüsse stehen nicht im Vordergrund, prägen aber ihr Schicksal. Der Titel des Buches ist dabei Programm: es geht nicht um Kriegshelden oder Revolutionsführer, sondern um einfache Leute, die in der bestehenden Hierarchie ganz unten stehen. Aber gerade das macht die Geschichte über Sunjas Familie über vier Generationen lesenswert. Wie sie den Widerständen wie die Abneigung der Japaner oder den engen gesellschaftlichen Grenzen trotzen und dabei eine eigene Identität suchen, ist sehr mitreißend. Dass dabei nicht alles von Erfolg gekrönt wird und die Familie auch herbe Schicksalsschläge hinnehmen muss, macht die Geschichte sehr authentisch.
Min Jin Lee hat einen sehr schönen, unkomplizierten Erzählstil. Das Buch folgt linear der Zeit, wobei die Kapitel auch mal mehrere Jahre nach vorne springen. Einige dramatische Momente machen den Roman zu einem intensiven Leseerlebnis und lassen einiges an Empathie entstehen. Lediglich im letzten Drittel ließ das bei mir etwas nach. Trotzdem konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen.
Persönliches Fazit
„Ein einfaches Leben“ ist ein packendes Familienepos mit einem besonderen politischen und historischen Hintergrund. Auch wenn die Intensität hintenraus etwas nachlässt, habe ich mit Sunja und ihrer Familie mitgefiebert, mitgehofft und mitgelitten. Eine sehr lohnende Reise nach Fernost!
© Rezension: 2018, Marcus Kufner
Roman
dtv Verlag | ISBN: 978-3-423-28972-6
21.09.2018
Gebunden
552
www.dtv.de
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