Von der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2018
Ist Charlie ein Spielzeug der Dekadenz ihrer Nachbarn? Im kurzen Prolog ist sie siebzehn Jahre alt und hat eine äußerst intime Beziehung zu dem Paar, das den Bungalow gekauft hat. Ist sie ein Opfer deren Langeweile oder lenkt sie sogar die beiden? Nach diesem kurzen Einblick gehen wir fünf Jahre zurück, um mehr über Georg und Maria, aber vor allem über Charlie zu erfahren.
Sie wollten keinen Ersatz für das Kind, das sie nicht rechtzeitig gekriegt hatten. Echt nicht. Sie wollten auch nicht meine Seele, fällt mir gerade auf. So eine Seele ist viel zu belanglos. Sie wollten jemanden, der besser spielte als sie selbst. Der noch brutaler war. Und ich glaube, das war ich. Noch brutaler. (S. 8)
Charlies Mutter ist geschieden, schizophren und Alkoholikerin. Da sie häufig komplett weggetreten ist, muss Charlie sich nicht nur um sich selbst, sondern auch um die Person kümmern, die das eigentlich für sie machen müsste. Eine unzumutbare Belastung für eine Zwölfjährige. So vieles, was für Kinder selbstverständlich sein sollte, wird zur Herausforderung: Was, wenn Charlie mal einen Schulfreund mitbringt? Wird das nicht peinlich? Verständigt vielleicht sogar jemand das Jugendamt bei den Zuständen? Erwachsenwerden ist im Normalfall ja schon verwirrend genug, unter diesen Umständen kann es für Charlie nicht folgenlos bleiben. Sie wird von Ängsten getrieben, jeder Tag ist ein Kampf.
Ich will nicht die ganze Nacht in einer Dauerschleife die spitzen Gegenstände in unserer Wohnung aufzählen und immer wieder aufstehen, um zu überprüfen, ob ich sie gut genug vor ihr versteckt habe. Ich will keine Angst vor Einbrechern oder dem Weltuntergang haben oder davor, dass meine Mutter beim Schreien zu atmen aufhört und ohnmächtig wird und gegen eine Kante knallt und mit heraustretender Hirnmasse auf dem Flurboden verendet, ich will nur pennen… (S. 151)
Die Luxusbungalows, die ausgerechnet gegenüber ihres Wohnblocks stehen, lassen Charlie in eine komplett andere Welt blicken. Der soziale Kontrast ist extrem. Für ein Kind, das hungern muss, wenn ihre Mutter das Geld anstatt für Lebensmittel für Zigaretten und Alkohol ausgibt, ist es undenkbar, eine Party zu feiern, wie es die wohlhabenden Nachbarn tun. In diesem Spannungsfeld zwischen Verwahrlosung und Überfluss kann der Kontakt zwischen diesen Welten nicht normal ablaufen.
Helene Hegemanns Roman ist wahrlich pessimistisch. Ob die teils dramatischen Situationen von Charlie mit ihrer Mutter, die schlechten TV-Nachrichten im Hintergrund, die auf einen Krieg hindeuten, oder eine Reihe von Suiziden in ihrem Umfeld, die Autorin konfrontiert uns hart und schonungslos mit Charlies destruktiver Welt. Da Charlie als Ich-Erzählerin auftritt, ist die Sprache sehr direkt und zieht mich gleich in ihren Bann. Sie erzählt von ihrer Jugendzeit in der Nachbetrachtung als Erwachsene, das gibt dem Text wiederum Reife und macht das Szenario äußerst glaubhaft. Mit welchen Strategien kann Charlie ihrer Last begegnen? Was macht das aus ihr? Diese Fragen in Verbindung mit der unsentimentalen Erzählweise haben mich sehr an das Buch gefesselt. Von der Long- auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis hat es „Bungalow“ zwar nicht geschafft, das Potenzial dafür hätte ich diesem Roman aber durchaus zugesprochen.
Persönliches Fazit
Hart, schonungslos, unsentimental. So lässt Helene Hegemann ihre Protagonistin vom Erwachsenwerden unter schweren Bedingungen erzählen. Der pessimistische Ton und die direkte Sprache machen das Setting äußerst glaubhaft und entwickeln einen Sog, der mich sehr gefesselt hat.
© Rezension: 2018, Marcus Kufner
Roman
Hanser Berlin – ISBN: 978-3-446-25317-9
20.08.2018
Gebunden
288
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