Mit dem Roman „Drei Tage und ein Leben“ hat mich Pierre Lemaitre mit seinem starken Schreibstil beeindruckt. Das hat mich neugierig darauf gemacht, wie sich ein Thriller von ihm lesen lässt.
„Opfer“ ist nicht Teil einer Reihe, der Hauptdarsteller Kommissar Verhoeven ist also ein neuer Charakter im Genre. Am auffälligsten ist seine Körpergröße: mit gerade mal 1,45 Meter muss er schon über eine besondere Ausstrahlung und Durchsetzungsfähigkeit verfügen, um sich den Respekt der Kollegen zu erarbeiten. Und den hat er, sein Wort hat Gewicht auch bei den Kriminellen. Als er hört, dass seine Freundin bei einem Überfall schwer verletzt wurde, reißt er die Ermittlungen an sich, stets bemüht, seine Befangenheit in diesem Fall zu verheimlichen. Und die Zeit drängt, denn der Täter hat noch mehr vor.
Der Überfall auf das Juweliergeschäft wird sehr mitreißend geschildert. Mir stockt der Atem, wie gewalttätig die Räuber vorgehen und auf die zufällige Zeugin Anne eindreschen. Das ist nichts für zimperliche Naturen. Lemaitre beschreibt das detailliert und erreicht damit eine hohe Intensität. Das lässt zwar nach, als Verhoeven mit den Ermittlungen beginnt; dadurch, dass der Haupttäter noch eine Bedrohung darstellt, bleibt es allerdings spannend. Der Autor erzählt nicht nur über den Kommissar, er lässt auch den Räuber zu Wort kommen. Das bringt nicht nur Abwechslung, es erhöht auch die Dramatik.
Wer bei einem Thriller einen glatten, schnörkellosen Schreibstil erwartet, ist hier schlecht aufgehoben. Pierre Lemaitre lässt seinem literarischen Können auch in diesem Genre freien Lauf. Für mich wird der Text damit stark aufgewertet. Die Beschreibungen der Personen sind ungewöhnlich präzise, da habe ich quasi unverzüglich ein ziemlich genaues Bild der Charaktere vor mir.
Camille kehrt zur Erde zurück. Seit zwei Tagen hat er den Eindruck, er sei in einem riesigen Kinderkreisel mit vulkanischer Beschleunigung gefangen. An diesem Vormittag rast er in alle Richtungen, der Kreisel verhält sich wie ein freies Elektron. (S. 228)
Ohne guten Plot wäre wohl auch der sprachlich raffinierteste Thriller langweilig. Abgesehen von ein paar wenigen Ereignissen in Verhoevens Vergangenheit, die im Genre doch recht abgenutzt sind, konnte mich die Geschichte durchaus überraschen. Ich habe deren Auflösung jedenfalls nicht vorhergesehen. Und da ich unbedingt wissen wollte wie es ausgeht, hatte ich das Buch kaum mal aus der Hand gelegt.
Persönliches Fazit
Eine Story, deren Ausgang mir lange unklar blieb, Protagonisten, denen ich sehr nahekomme, und eine Menge Spannung durch Gewalt und Bedrohung ergeben einen packenden Thriller. Vor allem aber durch Lemaitres ausgereiften Schreibstil wird er zu einem besonderen Leseerlebnis.
© Rezension: 2018, Marcus Kufner
Thriller
Tropen Verlag – ISBN: 978-3-608-50370-8
2.09.2018
Broschiert
329
www.klett-cotta.de
3 comments
Klingt ja nach einem spannenden Titel. Cover und Beschreibung hatten mich zunächst nicht wirklich angesprochen. So werde ich nochmals einen Blick auf das Buch wagen!
Hey Marius, ich bin ja immer froh, wenn ein Titel aus dem Thriller-Einerlei heraussticht. So ging es mir mit „Opfer“. Schön, dass du ihm eine Chance gibst 🙂
ich mag diesen Cover!