Rezension: Irmina | Barbara Yelin

by Alexandra Stiller
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Irmina | Barbara Yelin | Reprodukt Verlag

Barbara Yelin | IRMINA || Die ehrgeizige Irmina reist Mitte der 1930er Jahre nach London, um eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin zu beginnen. Dort lernt sie Howard aus der Karibik kennen, dem sie sich im Streben nach einem selbstbestimmten Leben verbunden fühlt. Durch den klugen und zielstrebigen Oxfordstudenten beginnt Irmina ihren Blick auf die Welt zu öffnen. Doch findet ihre Beziehung ein jähes Ende, als Irmina, bedrängt durch die politische Situation, nach Berlin zurückkehrt. Im nationalsozialistischen Deutschland steht sie vor der Möglichkeit, den erstrebten Wohlstand endlich zu erlangen, wenn sie dafür die verbrecherische Ideologie des Regimes nicht infrage stellt. Und die politischen Ereignisse eskalieren weiter und weiter… [Text + Cover © Reprodukt Verlag]

1934: Die neunzehnjährige Irmina – mutig, modern und ambitioniert, möchte sich selbst verwirklichen und beruflich vorankommen. Selbstständigkeit, ein eigenes Einkommen, die Welt erkunden. Das sind ihre Träume. Ehefrau, Herd und Kind, daran denkt sie nicht im Entferntesten. Sie reist nach England, bildet sich fort zur Fremdsprachensekretärin und verliebt sich in den zielstrebigen Oxford-Studenten Howard aus Barbardos.
In England offenbart sich der sehr unpolitischen Irmina ein Blick von außen auf ihr Heimatland Deutschland. Dort liegt vieles im Umbruch. Sie nimmt die Dinge wahr, wenn auch nur am Rande. Wird schon alles nicht so schlimm sein, wie es in der Zeitung steht. Sie sieht sich eher genötigt, ihr Land in Gesprächen zu verteidigen.

Unbekannt verzogen

Dennoch fühlt sie sich wohl in England, in Howards Nähe, und möchte bleiben solange sie kann. Aber finanzielle Nöte treiben sie schneller zurück nach Deutschland als geplant. Sie sucht sich einen Job, möchte schnell genügend Geld verdienen und arbeitet für das Kriegsministerium. Sie denkt sich nichts dabei, hofft nur ganz eigennützig auf eine Versetzung ins Deutsche Konsulat nach London.  Auch wenn diese Hoffnung im Sande verläuft, wurden Irmina Alternativen geboten, des Öfteren sogar. Doch sie hat sie nicht ergriffen. Sie hat auch den letzten großen Moment für eine Überfahrt nach London verstreichen lassen, als ein an Howard gerichteter Brief mit dem Vermerk „unbekannt verzogen“ wieder bei ihr eintrifft.

Irmina | Barbara Yelin | Reprodukt Verlag

Ein fliessender Prozess vom Freigeist zur Mitläuferin

Sie resigniert und ehe sie sich versieht, hängt sie ihren Freigeist an den Nagel. Sie wird nach und nach zur Mitläuferin, heiratet letztlich sogar bereitwillig den Architekten und SS Offizier Gregor und bekommt ein Kind. Für die Familiengründung erhalten sie viel Unterstützung. „Volksgemeinschaft“ lautet nun die Devise. Sie sieht, was um sie herum passiert, aber ihr Fokus verengt sich. Ein fließender Prozess, gesteuert durch das Regime, durch Versprechungen und finanzielle Unterstützung für die Familie. Wo ist die eigenwillige Irmina geblieben, die schnell das Wort ergriff, für andere einstand und mutig ihre Meinung verkündete? Geschluckt von den Mühlen des Nationalsozialismus und einer wirkungsvollen Staatspropaganda. Das Leid der anderen geht sie plötzlich nichts mehr an, denn es hat schließlich nichts mit ihr zu tun…

Viele Jahre nach dem Krieg trifft sie Howard wieder. Ein Mann, der immer seinen Idealen treu geblieben ist, sich immer für andere eingesetzt hat, egal wie hart und steinig der Weg war. Jetzt wird ihr richtig bewusst, wie wenig mutig, wie wenig eigensinnig sie tatsächlich war… Ihr Besuch bei Howard führt Irmina ihre eigene Schwäche und ihre Naivität vor Augen.

Mitschuld durch Wegsehen

Barbara Yelin lehnt die Geschichte an die Erlebnisse ihrer eigenen Großmutter im Dritten Reich an und versucht in langjähriger Recherche zu ergründen, warum ein Großteil der Gesellschaft sehenden Auges dem Regime folgte, sich nicht widersetze und somit einen nicht unerheblichen Teil an Mitschuld trug. Opportunismus und die eigene Bequemlichkeit sorgen leicht dafür, die Augen vor den Tatsachen zu verschließen,  in eine andere Richtung zu schauen, wenn der Weg wieder einmal an einer Plünderung oder sonstigen Gräueltaten vorbei führt.

Die teils aquarellartigen, teils skizzenhaften und atmosphärisch dichten Bleistiftzeichnungen in verschiedenen Graustufen übertragen die Stimmung hervorragend, hebt Mimik und Gesten gekonnt hervor.  Hier und da erscheint im Mittelteil ein dominantes Rot und stellt die Dramatik des Moments in den Vordergrund. im letzten Drittel weicht das Rot dem Türkisgrün. Womöglich für die Hoffnung?

Irmina | Barbara Yelin | Reprodukt Verlag

Persönliches Fazit

Barbara Yelin verbindet ihre großartigen Zeichnungen und Text perfekt miteinander und erschafft mit IRMINA eine berührende, aber niemals wertende Graphic Novel darüber, wie schnell dieser fließende Übergang vom Freigeist zum Mitläufertum sein kann. Sie regt sehr zum Nachdenken an  – auch im Hinblick auf das aktuelle politische Geschehen …
Das ausführliche Nachwort von Dr. Alexander Korb gibt noch mehr Einblick in die damaligen Strukturen und ist eine sehr hilfreiche Ergänzung. Eine ganz klare Empfehlung meinerseits!

Rezension © 2019, Alexandra Stiller

Irmina | Barbara Yelin | Reprodukt Verlag

Irmina
Barbara Yelin
Graphic Novel
Reprodukt Verlag | ISBN 978-3-95640-006-3
farbig, Hardcover, mit Leseband
288 Seiten
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