Kinder und Betrunkene sagen immer die Wahrheit, so sagt man. Der Ich-Erzähler in diesem Roman erinnert sich an eine Zechtour mit seinem älteren Bruder vor einigen Jahren, bei der nach mehreren Bierchen jede Menge „Wahrheit“ zur Sprache kam. Für den Großen selbst sind seine Aussagen jedenfalls Gewissheit. Wir Leser können seine Gedankengänge verfolgen, die einige schwerwiegende philosophische Fragen thematisieren, wie den Status der modernen Gesellschaft, die Suche des Volkes nach Identität, ob es zu verantworten ist, Kinder in diese Welt zu setzen oder den Sinn des Lebens und die Berührung mit dem Tod. Diese Gedanken zu verfolgen ist oft nicht so einfach, da er, sicher auch durch seinen angetrunkenen Zustand verursacht, fließend vom einen zum anderen Thema kommt. Dass das sprunghaft und manchmal oberflächlich ist, räumt er dabei gleich selbst ein. Trotzdem oder gerade deshalb ist es äußerst interessant, die erfrischend ungewöhnlichen und doch zumeist nachvollziehbaren Thesen zu verfolgen, auch wenn dabei viel Aufmerksamkeit erforderlich ist.
Der Tod des Bruders umrahmt den Roman mit einer besonderen Dramatik. Dass es ihn nicht mehr gibt, verleiht seinen Ausführungen jedenfalls mehr Gewicht. Auch die Familienverhältnisse spielen hier mit hinein, denn der Erzähler ist der Sohn der Frau, wegen der der Vater den Älteren und dessen Mutter verlassen hat. Da schwingen unausgesprochene Vorwürfe und Schuldgefühle mit im Verhältnis zwischen den beiden, die der Jüngere zu greifen versucht. So wie er reflektiere auch ich die philosophischen Gedanken seines Bruders. Ich bin erstaunt, wie viel in diesem mit 200 Seiten gar nicht so umfangreichen Buch alles steckt. Die Dichte drängt mir geradezu auf, es unbedingt nochmal in die Hand zu nehmen.
Deutschland sei ja ganz schön, sagte mein Bruder, wenn man es sich einmal in Ruhe ansehe, von einem Zug aus, mit zweihundert Kilometern pro Stunde durch eine bewaldete Ebene jagend, zwischen zwei Mittelgebirgen hindurch, deren Namen man seit der Grundschule nicht mehr gehört hat, und hier und da liegt ein Dorf im Grün, und das Weiß seiner Mauern ist klar abgegrenzt vom Schwarz oder Rot seiner Dächer, und die Vorstellung, hier in der Pubertät zu sein, ist so grauenvoll, wie die Vorstellung passend erscheint, hier seinen Ruhestand zu verbringen, mit Büchern und Breitbandinternet, in einem der Häuser, die hier schon lange stehen und aus denen sich in regelmäßigen Abständen Söhne aufgemacht haben, um Frankreich zu erobern, oder Russland, Söhne, die gelernt haben, dass es Dinge gibt, die man nicht versteht, aber dennoch tun muss, zum Wohle des großen Ganzen, der gesamten Welt außerhalb jener frisch angefüllten Gruben zu ihren Füßen, irgendwo im Osten, die sind die, wir sind wir, alle irgendwann Erde, manche früher, manche ein wenig später. (S. 63)
Es ist aber nicht nur der Inhalt, der den Roman lesenswert macht, es ist auch die spürbare Fabulierfreude des Autors, die mich mitgerissen hat. Von Beginn an entsteht ein Gedankensog, der durch keine Absätze oder Kapitel unterbrochen wird. Dass Sätze sich über eine halbe Seite oder länger strecken, ist dabei nicht die Ausnahme, sondern die Regel! Die Formulierungen sind so ungewöhnlich, dass sie einen besonderen Blick auch auf alltägliche Dinge ermöglichen. Damit erscheint so einiges, das für mich selbstverständlich ist, in neuem Licht. Was kann man von einem Buch mehr verlangen, als dass man darin neue Perspektiven findet?
Persönliches Fazit
Es ist nicht einfach, die philosophischen Gedankensprünge, die Heinz Helle seinen Protagonisten eingibt, zu verfolgen. Die ungewöhnlichen Perspektiven und die besondere Erzählweise hatten auf mich aber eine richtige Sogwirkung. Vor allem wegen der inhaltlichen Dichte werde ich das Buch sicher nochmal zur Hand nehmen.
© Rezension: 2019, Marcus Kufner
Roman
Suhrkamp – ISBN: 978-3-518-42823-8
10.09.2018
Gebunden
208
www.suhrkamp.de