Rezension: Der Kreidemann | C. J. Tudor

by Wolfgang Brandner
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C. J. Tudor - Der Kreidemann

C. J. Tudor | DER KREIDEMANN ||Alles begann an dem Tag, an dem sie auf den Jahrmarkt gingen. Als der zwölfjährige Eddie den Kreidemann zum ersten Mal traf. Der Kreidemann war es auch, der Eddie auf die Idee mit den Zeichnungen brachte: eine Möglichkeit für ihn und seine Freunde, sich geheime Botschaften zukommen zu lassen. Und erst einmal hat es Spaß gemacht – bis die Figuren sie zur Leiche eines jungen Mädchens führten. Das ist dreißig Jahre her, und Eddie dachte, die Vergangenheit liegt hinter ihm. Dann bekommt er einen Brief, der nur zwei Dinge enthält: ein Stück Kreide und die Zeichnung eines Strichmännchens. Und als die Geschichte beginnt, sich zu wiederholen, begreift Eddie, dass das Spiel nie zu Ende war …  [Text & Cover: © Goldmann]

In einem Interview gibt die Autorin C. J. Tudor an, gerne die Romane von Stephen King zu lesen. Und dieser Meister des subtilen Grauens dürfte für ihrem Debüt indirekt Pate gestanden haben. Die Handlung spielt parallel auf zwei zeitlichen Ebenen, einmal im Jahr 1986, einmal im Jahr 2016. Eine unbeschwerte Kindheit in den 1980er-Jahren wird von schrecklichen Ereignissen überschattet, die rätselhaft verbleiben … bis die Kinder von damals als Erwachsene erneut von diesen heimgesucht werden. Diese Struktur kann nur als eine Hommage an Kings (gleich konstruiertes) Meisterwerk “Es” verstanden werden. Dazu kommt ein zugleich sympathischer und undurchsichtiger neuer Lehrer namens Halloran … der jedoch anders als der gleichnamige Koch im Hotel Overlook in Kings “Shining” nicht schwarzer Hautfarbe, sondern ein Albino ist. Und ebenso wie Stepen King verkehrt die Autorin harmlose Orte und Symbole sorgenloser Freude (hier ein Clown, dort ein Jahrmarkt) in ihr Gegenteil, um durch diese maximale Distanz zwischen ursprünglicher und neuer Konnotation ein Maximum an Gänsehaut zu erzeugen.

Die 1980er  –  ein Sehnsuchtsort, in dem “Pac Man” und “Donkey Kong” schon das Äußerste darstellten, was für Heranwachsende an Digitalisierung zu verspüren war.

Parallel zur Verneigung vor ihrem Vorbild scheint C. J. Tudor einen Beitrag zur gegenwärtigen 1980er-Nostalgie leisten zu wollen, die sich in zahlreichen Neuauflagen und Fortsetzungen von Filmen und Serien manifestiert und mit “Ready Player One” ein Übermaß an erinnerungsüberladenen Artefakten erreicht hat. C. J. Tudor stilisiert dieses Jahrzehnt als Sehnsuchtsort, in dem Videospiele wie “Pac Man” und “Donkey Kong” schon das Äußerste darstellten, was für Heranwachsende an Digitalisierung zu verspüren war. Nicht die Enge des eigenen Wohnzimmers, sondern das gesamte Ortsgebiet der Kleinstadt samt der umliegenden Wälder dient der Clique als ihr Revier, Distanzen werden mit den Fahrrädern überwunden. Vor allem aber ist diese Periode mit technischen Annehmlichkeiten ausgestattet, kommt jedoch ohne Internet, ohne Smartphones, ohne Social Media aus. Erzähler Ed und seine Freunde verständigen sich mit einem eigenen Code aus Zeichen, die mit Kreide auf die Straße gemalt werden und hecken ihre Pläne mit zusammengesteckten Köpfen auf dem Spielplatz aus. Die Verständigung funktioniert offline, auf das Notwendigste reduziert und mindestens genauso effizient wie heute. Besonders die Kindheit in dieser goldenen Dekade ist ein zentrales Thema, ein noch nicht mit Verantwortung beladenes Idyll und der unerfüllbare Wunsch nach dessen Verlängerung ad infinitum.

Erwachsen sein ist bloß eine Illusion. Letzten Endes bin ich mir nicht sicher, ob irgendeiner von uns jemals richtig erwachsen wird. Das Einzige, was bei uns wächst, sind der Körper und die Haare. Manchmal wundert es mich wirklich, dass ich Auto fahren oder in der Kneipe Alkohol trinken darf. (S. 234)

Der in den 1980ern angesiedelte Teil der Handlung vollzieht sich innerhalb eines Jahres, folgt somit seiner eigenen Zeitrechnung und wirkt wie eine Kindheit im Schnelldurchlauf. Auf den Frühling des Erwachens, in dem Leser und Figuren einander kennen lernen, folgt ein heißer Sommer, in dem in der Wahrnehmung kindlichen Übermuts die Welt dem einzigen Zweck dient, Schauplatz für Abenteuer zu sein. Im Herbst, der die Zeichen der heißen Jahreszeit einmottet, wird man sich der unerbittlich vergehenden Zeit, der Vergänglichkeit bewusst, und im Winter, da alle Gefahren gemeinsam bestanden sind, muss jeder dem Takt seines eigenen Lebens folgen, die Clique zerstreut sich. Damit bietet sich Autorin neben der Rahmenhandlung auch eine zweite Lesart an: Welche Rolle spielt die Erinnerung in unserem Leben? In welchem Ausmaß konstituiert sie unsere Persönlichkeit – und zerfällt das Ich mit deren Verlust, wie durch den an Alzheimer erkrankten Vater des Erzählers verdeutlicht? Wie reagieren wir auf einen durch die Zeit geformten Ort, der in der Erinnerung in seinem Idealzustand konserviert ist?

Ein sukzessiver Spannungsaufbau

Obwohl die Geschichte von der Hauptfigur Ed erzählt wird, lässt die Autorin ihn mit zwei Stimmen sprechen. Der kindliche Ed des Jahres 1986 artikuliert sich in kurzen Sätzen, thematisiert vorwiegend eigene Affekte, während der Erwachsene des Jahres 2016 formal mehr Relativsätze gebraucht, nachdenklich reflektiert und das Geschehen ansatzweise zynisch kommentiert. Durch diese parallele Erzählweise steigert die Autorin die Spannung für ihre Leser sukzessive, indem sie sich dem grauenhaften Höhepunkt einerseits mit Rückblenden, andererseits mit Vorausdeutungen aus zwei Richtungen nähert.

Zum Ende hin fehlt dann doch dieses  gewisse Etwas

Als zusätzliches Stilmittel betreibt C. J. Tudor eine Eskalation in ein oft makaberes Extrem. Eine Kindergeburtstagsfeier ist nicht mehr ganz so lustig, nachdem der anwesende Pfarrer, gleichzeitig Vater eines der Kinder, durch einen Faustschlag niedergestreckt wurde. Das Begräbnis eines ertrunkenen Jugendlichen wird zur Anklage ungeheuerlicher Verbrechen genutzt. Indem sie derartige Ausnahmesituationen weiter und immer noch weiter auf eine immer unwahrscheinlichere Spitze treibt, setzt sich die Autorin dem Verdacht aus, Schockeffekte von der Handlung losgelöst als Selbstzweck zu inszenieren. Dadurch wird aber auch die letzte Abweichung von der Norm, die finale Eskalation, die zur Auflösung führt, nicht mehr als ausreichend exponiert empfunden. Am Ende ist die Konstruktion der Geschichte zu komplex, um ausreichend aufgelöst zu werden. Gerade der Aspekt des Unheimlichen, Unerklärlichen fordert nach einer plausiblen Erklärung. Die bereitgestellten Antworten wirken hingegen halbherzig erzwungen, einige der verbleibenden Lücken werden fadenscheinig mit Verweis auf Demenz gefüllt. Schließlich verbleibt der Eindruck, einer spannenden, interessanten, jedoch nicht vollständig zu Ende gedachten Geschichte.

Persönliches Fazit

DER KREIDEMANN von C. J. Tudor  ist ein spannender Thriller, trägt aber durch die Anklänge an Stephen King und Strapazierung der modernen 1980er-Nostalgie den Geruch eines bewusst konzipierten Bestsellers.

© Rezension: 2018, Wolfgang Brandner

Der Kreidemann
C. J. Tudor | Aus dem Englischen von Werner Schmitz
Thriller
Goldmann Verlag | ISBN: 978-3-442-31464-5
2018
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag
384 Seiten
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