Rezension: So dunkel der Wald | Michaela Kastel

by Wolfgang Brandner
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So dunkel der Wald - Michaela Kastel

Michaela Kastel | So dunkel der Wald || Ronja und Jannik führen ein Leben ohne Zukunft, seit sie als Kinder von einem gewissenlosen Entführer tief in den Wald verschleppt wurden. Eines Tages gerät die Situation außer Kontrolle, und die langersehnte Freiheit ist zum Greifen nahe. Doch was so lange ein Wunschtraum war, erscheint ihnen plötzlich fremd und beängstigend. Und die Jagd auf sie hat bereits begonnen … [Text & Cover: Emons Verlag]

 

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In einer einsamen Hütte im Wald, irgendwo im weiteren Umkreis der oberösterreichischen Hauptstadt Linz wird eine Gruppe entführter Kinder gefangen gehalten. Sie alle sehnen sich nach Freiheit … doch könnten sie nach den Jahren der Gefangenschaft damit umgehen? Der Roman thematisiert auf beklemmende Weise das Zusammenspiel von jungen Persönlichkeiten, die in ihrer charakterlichen Entwicklung gebrochen wurden.

SPOILERWARNUNG

Das ist alles, was man über den Inhalt wissen muss, um sich für das Buch von Michaela Kastel zu entscheiden. Wer nun neugierig geworden ist und das Buch selbst lesen möchte, sollte spätestens JETZT die Lektüre der Rezension beenden.

Die knapp zwanzigjährige Ronja und der in etwa gleichaltrige Jannik haben den Großteil ihres Lebens in der Gewalt eines Mannes verbracht, den sie nur “Paps” nennen. Eines Tages ergreift Ronja die Gelegenheit, doch ihre Flucht endet abrupt. Auf dem Weg zurück zur Hütte im Wald wagt Jannik dann den Befreiungsschlag und bringt Paps mit jener Grausamkeit um, die er selbst über die Jahre erfahren hat. In jedem anderen Roman wäre dies das dramatische Finale mit obligatem Happy End. Hier jedoch schafft diese Wendung nach kurzer Zeit die Ausgangssituation für eine neue Geschichte, die andernorts höchstens in der Möglichkeitsform erzählt würde.

Eigentlich könnten die entführten Kinder an diesem Punkt in die Zivilisation zurückkehren.

Eigentlich müssten sie den Ort ihrer Qualen fluchtartig verlassen.

Doch die neue Freiheit fühlt sich ungewohnt, gefährlich an. 

Somit entscheidet Jannik als Ältester und mit der meisten Erfahrung im Überlebenskampf ausgestattet, die Situation erst gründlich zu überdenken. Doch die Übergangssituation wird zum Dauerzustand – der Käfig in den Köpfen der Kinder erweist sich als absolut ausbruchssicher.

Wir haben keine Vergangenheit und keine Zukunft, bloß eine Gegenwart, die in Trümmern liegt. Wohin also, wohin? (S. 76)

Bei Michaela Kastel treibt kein Serienmörder die Ermittler vor sich her, muss keine Verschwörung aufgedeckt und keine Katastrophe verhindert werden. Die Autorin bringt es fertig, aus der Abwesenheit einer drohenden Gefahr eine Situation permanenter Anspannung zu erzeugen. Die Enge des Raumes, die traumatisierte Persönlichkeiten eng aneinanderkettet und deren verkümmertes Bedürfnis nach Freiheit wirken wie ein sich erhitzender Druckkochtopf.

Schließlich treibt der Gesundheitszustand der vor sich hinsiechenden Nika Jannik und Ronja aus der Hütte und bricht damit die statische Situation auf. In seinem verzweifelten Bemühen, die Kontrolle zu behalten, entwickelt Jannik dabei immer mehr die Charakterzüge ihres ursprünglichen Entführers. Die Erkenntnis, dass hier ein Opfer das erfahrene Leid weitergibt und selbst zum Täter wird, schmerzt beim Lesen. Auf den ermordeten Tyrannen folgt nicht die Freiheit, sondern lediglich der nächste Tyrann.

‘Du lügst.’ Theos Gesicht ist verzerrt, seine Stimme ist voller Zorn. ‘Jannik wird ihr etwas antun. Ich weiß es. Er ist wie Paps, er wird ihr etwas antun!’  (S. 240)

Die Hütte reproduziert in urtümlicher, analoger Form die aus den Social Networks bekannten Echokammern. Ohne äußere Einflüsse verfestigt sich das von Jannik beschworene Bild der Hütte als einzig sicherem Ort immer weiter. Durch die permanente Isolation entfremden sich die Kindern zunehmend von der Gesellschaft. Besonders deutlich wird diese Entfremdung durch die Jahre des (immer nur angedeuteten) körperlichen Missbrauchs. Ronja will das geschwisterliche Verhältnis zu Jannik aufbrechen, in etwas Intimeres überführen, doch in der kleinen Hütte im Wald ist Nähe untrennbar mit Schmerz und Liebe mit Gewalt verbunden.

Mit jedem Tag in Paps’ Gefangenschaft haben wir einen Teil unseres Selbst verloren und seine verdrehte Wirklichkeit angenommen. In dieser Wirklichkeit bedeuten Berührungen Schmutz und Schande, Zärtlichkeit schürt Angst, und Gefühle sind nur Märchen. (S. 166)

Als Maßstab dient eine parallele Handlung um die Polizistin Sarah Wiesinger, die nach einem neuen Hinweis die Suche nach den vermissten Kindern wieder aufnimmt. Ihre Perspektive bietet den Kontrast, an dem sich die grausame Absurdität jener Wirklichkeit ermessen lässt, die in der Abgeschiedenheit des Waldes errichtet wurde.

In einer weiteren Serie von Einschüben wird anhand von Tagebucheinträgen des ursprünglichen Entführers die Geschichte ererbter Gewalt aufgerollt. Erst als lose Gedanken in die Seiten geworfen, offenbart sich schließlich der Zusammenhang. Damit ist der Blick zurück gleichzeitig ein Blick voraus. Die Vergangenheit bestimmt die Zukunft, die Figuren sind in einem sich selbst erhaltenden System der Grausamkeit gefangen.

Von Beginn an sind ähnlich ausgerichtete Kriminalfälle der jüngeren österreichischen Geschichte im Kopf präsent und lassen dem Roman lange, bedrohliche Schatten wachsen. Das Thema ist hart und zu realistisch, um es als Fiktion abzutun und arbeitet in den Lesepausen im Kopf weiter. Dennoch kann die Autorin nicht alle sich ergebenden Fragen vollständig beantworten: Wie werden die Kinder den ganzen Tag über beschäftigt? Wie kommen die Kinder an frische Kleidung, wie wird die Wäsche erledigt? Und vor allem, wenn durch ausreichend Nahrungsmittel, Insektenschutzmittel und Benzin offensichtlich eine rudimentäre Anbindung an die Zivilisation gegeben ist – wie kann es “Paps” gelingen, so nachhaltig aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verschwinden, vor allem in einer dörflich-bäuerlichen Umgebung? Diese Lücken mögen dem Roman als Schwäche ausgelegt werden, sind jedoch für den Kern der Handlung – die Unmöglichkeit, aus dem eigenen Gefängnis auszubrechen – kaum relevant.

Persönliches Fazit:

SO DUNKEL DER WALD  von Michaela Kastel ist eine bedrückend realistische Geschichte mit rudimentärer Handlung um entführte Kinder. In der Isolation wird dabei die erfahrene Gewalt bis zur Eskalation reproduziert.
© Rezension: 2018, Wolfgang Brandner
So dunkel der Wald
Michaela Kastel
Krimi
Emons Verlag | ISBN: 978-3-7408-0293-6
2018
Gebunden mit Schutzumschlag, 304 Seiten
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