Während man MITTAGSSTUNDE von Dörte Hansen liest, möchte man unbedingt einmal ins Dorf Brinkebüll fahren. Durch die Baumallee dort spazieren, die Trecker gemütlich über die Felder fahren sehen, zusammen mit Marret Feddersen am Abend Schlager im alten Dorfkrug singen. Und man möchte einfach einen Tag im Leben des jungen Ingwer verbringen, in der vermeintlichen Idylle des des kleinen Dorfs, in dem sich große Geheimnisse verbergen.
Eigentlich bereut Ingwer seinen Entschluss nicht, dass er das Dorf für sein Studium verlassen hat. Nach einigen Jahren als Archäologe an der Universität und nach gut zwei Jahrzehnten in derselben Wohngemeinschaft und in der derselben, undefinierbaren Beziehung mit Ragnhild ist sein Leben festgefahren.
„Er dümpelte und sah kein Land. Er war es leid, das grundentspannte Kumpeltier zu sein. Er war selten wütend, aber wenn, dann richtig.“
Eine schwierige Annäherung
Also flieht er erneut, diesmal von der Stadt zurück nach Brinkebüll. Auch um sein ewig nagendes schlechtes Gewissen gegenüber seinen Großeltern zu stillen, die ihn aufgezogen haben.
Während Ingwer für ein Jahr zurückkehrt, versucht, sich seinem skeptischen Großvater Sönke wieder anzunähern und sich um seine immer vergesslicher werdende Großmutter Ella kümmert, erzählt Dörte Hansen auf verschiedenen Zeitebenen vom Dorfleben der vergangenen und auch gegenwärtigen Bewohner.
Man erfährt, warum ein Bauer nach dem anderen aufgab, was es eigentlich mit dem Mittagsschlaf im Dorf auf sich hat und warum die Landvermesser in den 60er-Jahren das Leben der Feddersens komplett auf den Kopf gestellt haben.
Eine Frau „wie eine Sanddüne“
Nicht nur die Zeitsprünge, sondern auch die Perspektivwechsel, die neben Ingwer auch die anderen Dorfbewohner abwechselnd in den Fokus rücken, lassen die Dynamik des Dorflebens mit jeder Seite lebendiger werden. Die Brinkebüller wachsen einem immer mehr ans Herz. Ganz besonders Marret, die in ihrer eigenen Welt mitten im Dorf lebt.
„Marret war wie etwas Flüchtiges, Verwehtes, das ständige seine Form änderte, Sanddüne, Wolke, Quecksilber, sie hatte keine Grenzen. Keine feste Haut, so kam es Ella vor. Sie hatte lange Zeit gesucht nach einem Sinn in dem, was Marret tat oder sagte, nach einer Ordnung, einer Formel, die ihr dieses Kind begreifbar machte. Sie hatte aber aufgehört damit. Ein Kind wie Marret war ein Spiel und man bekam keine Anleitung.“
Persönliches Fazit
MITTAGSSTUNDE ist ein ruhiger Roman, in dem Dörte Hansen vor allem mit ihrer wunderbaren Art mit Worten und Metaphern zu spielen, eine zauberhafte Welt erschaffen. Ein Roman voller zauberhafter Details und Entwicklungen. Ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legen will, bis Ingwer sein Sabbatical in seiner alten Heimat beendet hat.
Rezension: 2019 © Marlene Gempp
Weitere Bücher von Dörte Hansen im BücherKaffee:
Roman
Penguin Verlag | ISBN: 978-3-328-60003-9
2018
Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen
319 Seiten
www.randomhouse.de
1 comment
….hatte gerade die Deutschstunde von Siegfried Lenz wieder “ausgegraben” und “ausgelesen” – und habe am nächsten Tag die “Mittagsstunde” geschenkt bekommen. Das war unglaublich – Frau Hansen scheint eine unmittelbare “Nachkommin” des Meisters Lenz zu sein. Ich kenne Nordfriesland, Menschen dort und hab die Sprache so oft gehört. Und all die anderen “Vorkommnisse” die hier so “nebenbei” geschildert werden und unser aller Leben beeinflussen , beeinträchtigen und Angst machen – sie werden in dieser Geschichte und in den Worten “eindringlich”……. Was mich am meisten fasziniert: Die Beschreibung von Menschen, Landschaft, Sprache und Gefühlen in langen, jedoch nicht langweiligen sätzen. .Hab
das Buch sofort an einen Freund in Husum gesandt – will es aber wieder zurückhaben, was den Freund befremdet……..