Rezension: Das Unglück schreitet schnell | Johannes Böhme

by Marcus Kufner
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Das Unglück schreitet schnell

“Das Unglück schreitet schnell” von Johannes Böhme

Johannes Böhme hat die Merkwürdigkeit seiner Großmutter nie durchschaut, ihre Marotten fand er anstrengend, ihre Ängste irrational. Lange nach ihrem Tod liest er die Liebesbriefe, die ein gewisser Hermann Bartens aus dem Krieg geschrieben hat. Der letzte Brief stammt aus Stalingrad im Januar 1943. Mit den Briefen begibt er sich auf eine Reise in die Vergangenheit, folgt Bartens Spuren durch verwüstete Landschaften im Süden Russlands. Voller Poesie erzählt Johannes Böhme von der Suche nach Hermann Bartens, dem Lächeln seiner Großmutter, einer verschwundenen Katze und von den Spuren, die Gewalt hinterlässt. [© Text und Cover: Ullstein Verlag]

 

Was so ein Fund im Nachlass der Großeltern nicht alles auslösen kann! Die Briefe, die Johannes Böhmes Großmutter über Jahrzehnte aufbewahrt hatte, haben ihn immerhin dazu inspiriert, diesen Roman zu schreiben. Ausgehend von den eher kargen Fakten aus diesem Schriftverkehr lässt er die Beteiligten wieder lebendig werden, indem er sich vorstellt, wie ihre Existenz zu der Zeit ausgesehen haben könnte.

Es ist 1935, als Anny Hermann Bartens kennenlernt, der zwei Jahre später ihr erster Ehemann werden sollte. Er ist der fleißige Briefeschreiber, den wir in diesem Buch hauptsächlich begleiten. Er hat sich bereits 1928 bei der Reichswehr verpflichtet und hat somit später den 2. Weltkrieg von Beginn an als Soldat erlebt. Dramatisch ist, dass gleich klar ist, dass er es nicht aus Stalingrad herausgeschafft hat. Man sollte meinen, dass damit eigentlich die Spannung raus ist. Seltsamerweise habe ich aber, je länger ich seinen Weg verfolgt habe, immer wieder gehofft, dass es doch noch für ihn gut ausgehen würde.

Er war ein unfanatischer Nationalist, ein reflexhafter Antisemit, ein Anhänger militärischer Tugenden, schon weil es die einzigen waren, die er wirklich verinnerlicht hatte. Er mag mutig gewesen sein, aber den Heldentod herbeigesehnt hat er nicht. In den Krieg ging er dennoch mit großer Selbstverständlichkeit. Er nahm ihn hin, wie ein Schiffbrüchiger die Wellen hinnimmt, die über ihm brechen. (S. 201)

Johannes Böhme hat den Text mit einigen teils persönlichen Fotos ergänzt. Das verleiht dem Buch zunächst einen gewissen dokumentarischen Charakter. Seine fiktive Ausarbeitung ist allerdings so detailliert und intensiv, dass ich hier vieles sehr gut nachempfinden kann und keineswegs nur Fakten erfahre. Vor der Brutalität und den Grausamkeiten des Krieges verschont er uns nicht. Schließlich ist der Mensch in kaum einem Bereich erfindungsreicher als bei Tötungsmaschinen. Das gegenseitige Abschlachten in ungeheurer Zahl erlebe ich hier hautnah mit. Ich will Hermann eigentlich ständig zurufen: „Was habt ihr denn nur mitten in Russland? Kehrt doch um, wem bringt dieses zahllose Morden und Zerstören denn was?“ Aber Hermann ist ja nur Soldat, der wird nicht nach seiner Meinung gefragt, der hat nur die Befehle auszuführen. Er weiß teilweise ja nicht mal, wo ihn der Zug hinbringt, in den er gesetzt wurde.

 

Das Unglück schreitet schnell

“Das Unglück schreitet schnell” von Johannes Böhme

 

Sie realisierten im kühlen Licht einer rauchverhangenen Sonne, in der Hunderte starben, um an einem Tag ein Haus, ein Stockwerk, einige Meter zu erobern: die Absurdität ihres Tuns. Alle Erzählungen wurden ihnen hohl, die Sätze, die Phrasen, in die sie ihr Tun bis dahin gekleidet hatten, verloren nach und nach jeden Sinn. (S. 338)

Bei diesem drastischen Thema funktioniert das Buch vor allem deshalb so gut, weil Böhme stets den richtigen Ton findet. Die Kriegsereignisse schildert er ohne Abstraktion, ohne Ausschmückungen und ohne sie emotional zu dramatisieren. Genau dadurch wirkt das sehr intensiv und aufwühlend auf mich. Ähnlich ging es mir bei den Gedanken und Erinnerungen, die jedem Kapitel vorangestellt sind. Da steckt ihn wenigen Worten sehr viel Tiefe! Dass er als Enkel der Kriegsgeneration rückblickend nicht vorwurfsvoll den Zeigefinger erhebt, finde ich dabei sehr wichtig. Auf eine differenzierte Weise kann ich mir dadurch selbst ein Bild machen, wie die verschiedenen Haltungen zum Krieg oder zum Nationalsozialismus waren.

 

Persönliches Fazit

„Das Unglück schreitet schnell“ ist ein eindrucksvoller Roman, der auf intensive und aufwühlende Weise vermittelt, wie verachtenswert Krieg und Waffen sind. Mich hat er erschüttert und bewegt, ein starkes Debüt!

© Rezension: 2019, Marcus Kufner

 

Das Unglück schreitet schnell Book Cover Das Unglück schreitet schnell
Johannes Böhme
Roman
Ullstein – ISBN: 978-3-96101-016-5
15.03.2019
Gebunden
416
www.ullstein-buchverlage.de
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