Jocelyne Saucier | Niemals ohne sie

by Alexandra Stiller
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Jocelyne Saucier - Niemals ohne sie - Suhrkamp, Insel Verlag

Jocelyne Saucier | Niemals ohne sie || Die Cardinals sind keine gewöhnliche Familie. Sie haben den Schneid und die Wildheit von Helden, sie haben Angst vor nichts und niemandem. Und sie sind ganze dreiundzwanzig. Als der Vater in der stillgelegten Mine eines kanadischen Dorfes Zink entdeckt, rechnet der Clan fest mit einem Anteil am Gewinn – und dem Ende eines kargen Daseins. Aber beides wird den Cardinals verwehrt, und so schmieden sie einen explosiven Plan, der, wenn schon nicht die Mine, so wenigstens die Ehre der Familie retten soll. Doch der Befreiungsschlag scheitert und zwingt die Geschwister zu einem Pakt des Schweigens, der zu einer Zerreißprobe für die ganze Familie wird. [Text + Cover: © Insel Verlag]

Unbändig, wild, rau, unberechenbar und stellenweise brutal und seltsam – die Cardinals, eine 23-köpfige (ja, richtig gelesen) Familie, ähnelt der Natur in Norco, dem abgelegenen und verarmten kanadischen Minendorf, in dem sie leben und auch in gewisser Weise die Herrschaft übernommen haben. Sie sind die selbsternannten Kings von Norco.

Und genauso ist auch dieses Buch. Ich mochte die Geschichte wirklich sehr, vielleicht gerade, WEIL sie wundersam und wild war. Weil ich es mir kaum vorstellen kann, in einer so großen Familie zu leben und diese Gemeinschaft und ihr Miteinander mich sehr interessierte.

Ich wurde sieben Jahre alt, war also kein Kleinkind mehr, sondern hatte das Alter erreicht, in dem unser Vater uns beibrachte, wie man mit Dynamit umgeht.

Jocelyne Saucier erstellt ein Psychogramm einer großen Bergbau-Familie, die ein Geheimnis trägt und wahrt. Dieses Geheimnis lastet ungemein auf Ihnen. Es legt sich wie ein schwerer, staubiger Teppich über die Familie, verdüstert, nimmt die Luft zum Atmen. Die Parallelen sind gut gezogen zum Bergbau. Kommen die Pfeiler, die alles tragen, ins Wanken, dann ist der Stollen einsturz gefährdet. Das Geheimnis der Familie ist die Stange Dynamit, die an dem Grundpfeiler der Gemeinschaft der Cardinals angebracht ist, die alles aus dem Gleichgewicht bringt. Und keiner wagt es, die Zündschnur in Brand zu setzen…

Wild, rau und unberechenbar

Aus wechselnden Perspektiven erzählen die Kinder über das Erlebte und nach und nach bekommt man mehr Einblick in die Geschehnisse und in das Familienleben. Aber vieles bleibt ungesagt, liegt im Verborgenen. Es ist eine kleine Gesellschaft für sich, diese Familie. Die Ältesten haben das Sagen, übernehmen auch schon mal die Elternrollen. Die Kinder haben alles im Griff, erziehen sich gegenseitig, organisieren sich selbst – auf antiautoritäre Art und Weise. Sie trotzen der ständig herrschenden Armut, es gibt viel Gerangel, Mutproben und Machtkämpfe, aber jeder weiß sich zu helfen.

Die Eltern selbst schweben ein wenig über den Dingen. Sie gehen jeweils ihren Hauptbeschäftigungen nach. Der Vater im Keller – die Mutter in der Küche. Nachts wandelt sich das Bild. Nachts wacht die Mutter über ihre Schar, spendet Trost durch pure Anwesenheit, hat viel mehr im Blick, als alle vermuten.

Das Rätsel um unseren Vater, ein Phantom seines wahren Ichs, der seine Persönlichkeit vor uns verbarg, weil er sich von seiner Besessenheit für Steine tyrannisieren ließ. Und das Rätsel um unsere Mutter, die sich, wenngleich anwesend, den ganzen Tag in ihrer Küche verschanzte, verloren inmitten des Töpfeklapperns und der Kochdämpfe, und die, gerade weil sie immer da war, für uns unsichtbar war.

Das Schicksal schlägt erbarmungslos zu. Die Mine, in der der Vater Zink entdeckte, wird stillgelegt und die Schürfrechte wurden verkauft. Die Cardinals, um Ihren heiß erwarteten Reichtum gebracht, entwickeln einen Plan, um an das zu kommen, was ihnen zusteht. Die Dinge geraten aus dem Ruder und etwas Schlimmes passiert. Etwas, dass die Familie zerreißt, versprengt, in alle Himmelsrichtungen… die Gemeinschaft zerbricht. Erst viele Jahre später trifft die Familie wieder aufeinander. Dieser Last, diesem immensen Druck ihres Geheimnisses sind sie nicht mehr gewachsen. Das Dynamit wird gezündet…

Mein Fazit

Nach “Ein Leben mehr”  ist der franko-kanadischen Autorin Jocelyne Saucier erneut ein großartiger Roman gelungen. Ungewöhnlich ist diese Geschichte, erdverbunden, rau und wild – und doch mit schon fast zärtlich und warmherzig anmutenden Zwischentönen versehen.

© Alexandra Stiller

Niemals ohne sie
Jocelyne Saucier | Aus dem Französischen von Sonja Finck und Frank Weigand
Roman
Insel Verlag | ISBN: 978-3-458-17800-2
11.03.2019
Gebunden, 255 Seiten
www.suhrkamp.de
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Bianka Bloecker 20. Juni 2019 - 11:41

Das hat mich neugierig gemacht! Und ich bin tatsächlich durch Berlins momentane Gluthitze zu meinem Buchladen gelaufen …

Aber Achtung Ich möchte dene Rezension um Stefanie Leos kleine Vorwarnung ergänzen: “21 Kinder zählt die Familie und die haben neben Taufnamen auch noch Spitznamen und so sah ich mich anfangs mit gefühlten 50 Charakteren konfrontiert.”
Allerdings !
Man fühlt sich tatsächlich ein wenig wie bei Dostojewski: die Wirkung der großen psychologische Eindringlichkeit der Beschreibung seiner Protagonisten geht vor lauter Namen-Sortiererei anfangs glatt an einem vorbei.
Aber hat man die Figuren nach der ersten, etwas holprigen Strecke lebendig einmal vor Augen, gibt es kein Halten mehr. Den Rest kann man einfach nur genießen: Die Dichte der Zwischentöne, die Vielfalt der Perspektiven und Figuren, die Sogkraft von Sprache und Rhythmus.

An alle, die dieses großartige Buch noch vor sich haben: ich bin ein wenig neidisch.
Bianka

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