Gleich der Prolog knüpft an den packenden Klappentext an: Der Leser beobachtet Markus, einen deutschen Touristen in Dänemark, wie er mit Benzinkanister und Signalfackel hantiert und sich einem Ferienhaus nähert …
Doch der Roman widmet sich vorerst Jette Jensen und Tom Skagen, Mitarbeiter von Skanpol, einer skandinawienweit tätigen Polizeiorganisation, ähnlich organisiert wie Europol. Deren Unterstützung wird von den dänischen Behörden in Ringkobing für den Fall einer angespülten Frauenleiche angefordert. Nachdem die Identität der Toten geklärt ist, ermitteln Jette, Tom und ihre Kollegen vor Ort in ihrem Umfeld und stoßen auf ein komplexes Verbrechen weitaus größeren Ausmaßes.
Anne Nordby setzt auf langsamen Spannungsaufbau
Lange, sehr lange, benötigt die Geschichte, um an Spannung zu gewinnen. Im ersten Drittel des Buches werden vorwiegend die Persönlichkeiten der Polizeibeamten und die Beziehungen untereinander erkundet. Die Wahrheitsfindung gestaltet sich als mühsames Waten im Sand der Dünen. Erst als der Leser das eigentliche Wesen des Verbrechens zu ahnen beginnt, wird die Geschichte greifbar, gewinnt an Kontur. Im Hintergrund zieht ein Mastermind seine Fäden, um ein perverses soziologisches Experiment durchzuführen. Durch Erpressung bringt er Menschen dazu, Verbrechen zu begehen. Der Ansatz erinnert an Stephen Kings “Needful Things” (“In einer kleinen Stadt”), die Umsetzung ist jedoch weitaus weniger subtil. Auch der Erzählstil durchläuft seine eigene Entwicklung: Zu Beginn bestimmen kurze, sehr bildhafte Hauptsätze die Seiten. Übermittelt wird überwiegend nuancenlose visuelle Information. Zusammen mit dem durchgängigen Präsens als Erzähltempus soll der Eindruck der Unmittelbarkeit geschaffen, die Nähe zum Leser hergestellt werden. Dies gelingt nicht vollständig, die Erzählung wirkt holprig, erhält einen schulaufsatzartigen Klang.
Espersen ist besorgt um die Natur. Skagen versteht das. Jette jetzt vermutlich auch.” (S. 52)
Erst nach und nach – der Übergang ist fließend – entfaltet sich eine vertrautere Sprachführung. Die Hauptsätze scheinen erwachsen zu werden, werden um Relativsätze erweitert. Die Erzählung verlagert ihren Schwerpunkt vom neutralen Beobachten zu einem persönlicheren Bewerten. Aus der Perspektive der Figuren wird das Geschehen kommentiert. Die personale Perspektive lässt innere Monologe und Gefühlsausdrücke zu.
Nachdenkliche Momente an der Küste
Die Parallelen in der erzählerischen und der stilistischen Reifung sind auffällig. Immer mehr verfestigt sich der Eindruck, die Autorin fühle sich erst nach einer längeren schreiberischen Aufwärmphase in ihrer Geschichte wohl und mit dem sprachlichen Handwerkszeug vertraut. Ab diesem Punkt bietet sich ein fesselnder, wendungsreicher Thriller. Bis dahin besteht allerdings die Gefahr, weniger ausdauernde Leser unterwegs zu verlieren. Zwischendurch lässt Anne Nordby ihre Leser immer wieder an ihrer persönlichen Leidenschaft für die rauhe Witterung und nachdenkliche Momente an der Küste teilhaben:
Vor seinem inneren Auge steigt Elena in ihr Auto, das Wetter ist regnerisch. Der Herbst drückt aufs Gemüt. Weint sie auf dem Weg zum Strand? Ist sie klar im Kopf, sieht sie dem Tod nüchtern entgegen? Oder hat sie Angst? Warum das Meer? […] Sie geht in Richtung Strand. Langsam oder mit festem Schritt? Sie erklimmt die Dünen. Bleibt stehen. Blickt auf das Meer. Woher kommt der Wind? Ist die Brandung hoch? Oder ist die Nordsee an diesem Tag still und zahm? (S. 165)
Befremdlich wirken zudem zahlreiche umgangssprachliche Ausdrücke. In der Figurenrede werden diese üblicherweise verwendet, um eine lokale Färbung zu vermitteln. Hier in der Erzählerinstanz wirken sie (für Leser, die nicht aus dem norddeutschen Raum stammen) irrigierend, wie kleine Schlaglöcher auf der Erzählstraße.
Ein Kofferraum voller Urlaubsmitbringsel
Den einzelnen Figuren und Situationen vermeint man allesamt bereits in anderen Krimis begegnet zu sein. Tom Skagen ist beispielsweise ein dickköpfiger aber sympathischer Ermittler, der seinem Bauchgefühl folgend, gegen die Anweisungen seiner Vorgesetzten handelt … und damit den entscheidenden Beitrag zur Lösung des Falles leistet. Als Hauptfigur wird er immer wieder von seinen eigenen Dämonen eingeholt, sein persönliches Trauma hat seinen Ursprung passenderweise auf hoher See. Die beiden Beamten der supernationalen Spezialeinheit werden von einem cholerischen und völlig überforderten Polizeichef vor Ort empfangen, der mit seinem ursprünglichen Verdacht natürlich irrt. Jette Jensen, Toms Begleiterin und Vorgesetzte, leidet an ehelichen Problemen, die sie mit Mads Espersen, einem ausgesprochen virilen dänischen Kollegen betäubt. Dieser ist, ebenso wie Tom Skagen, kräftig gebaut, blond und vollbärtig und könnte als Prototyp eines Wikingers gelten. Passend zu diesem Klischee finden sich in den ersten Kapiteln zahlreiche kulinarische Spezialitäten aus Dänemark, als wollte die Autorin einen Kofferraum mit Urlaubsmitbringseln füllen. Bereits im zweiten Kapitel diskutieren die Ermittler bei einer Buttercremetorte über Beck’s Bier und Köttbullar, später nimmt der Leser an einem dänischen Frühstück teil:
Ach herrlich. Es gibt nichts Besseres als dänische Rrundstrykker und die Marmelade von ‘Den Gamle Fabrik’. (S. 93)
Im Finale drängt schließlich die Zeit, der Held will nicht auf Verstärkung warten und wird überrumpelt. Besonders im Abschluss wird die Geschichte wieder sehr jugendromanartig und erinnert in der Entschärfung brenzliger Situationen an Serien wie die “Fünf Freunde” oder die “Knickerbocker Bande”. All diese vertrauten erzählerischen Elemente lassen den Roman ein wenig wie eine Blaupause für skandinavische Krimis wirken.
Persönliches Fazit:
Nach einer sehr langen erzählerischen und stilistischen Aufwärmphase gewinnt “Kalter Strand” von Anne Nordby dank eines interessanten Antagonisten an Spannung. Wie, um ganz bewusst eine nordländische Atmosphäre zu erzeugen, ist die Dichte an Stereotypen auffallend hoch.
© Rezension: 2019, Wolfgang Brandner
Thriller
Gmeiner Verlag | ISBN: 978-3-8392-2425-0
2019
Klappenbroschur Premium, 473 Seiten
www.gmeiner-verlag.de
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