Bei den meisten Thrillern ist die zentrale Frage die, wer der Täter ist. Das ist bei diesem hier anders, denn die Beweislage ist doch ziemlich eindeutig: Alicia hat ihren Mann erschossen. Zu diesem Urteil kommt jedenfalls ein Gericht und lässt die Mörderin in eine geschlossene Anstalt einweisen, denn wer so etwas Grausames wie in diesem Fall macht, ist wohl nicht wirklich zurechnungsfähig. Dass Alicia seit dem Mord kein Wort mehr sagt, hilft ihrer Verteidigung auch nicht wirklich.
Ihr Schweigen war wie ein Spiegel, der das eigene Selbst auf einen zurückwarf. Was häufig ein hässlicher Anblick war. (S. 119)
Als der Psychotherapeut Theo Faber von ihr hört, lässt er sich extra in ihre Anstalt versetzen, um ihr helfen zu können. Er möchte ihr Schweigen brechen und aufklären, was das Motiv für ihre Tat war. Theo ist der Ich-Erzähler in der Geschichte, und er erzählt offensichtlich sehr gern – vor allem von sich selbst. Mir kam das zunächst zu viel vor, schließlich geht es doch eigentlich um Alicia, aber gerade in ihre Geschichte verwickelt er sich immer mehr. Er nimmt Kontakt mit Alicias Verwandten und Bekannten auf, um mehr über sie und ihren Hintergrund zu erfahren und wird dadurch quasi zum Ermittler, ein Kommissar würde wohl nicht wesentlich anders vorgehen. Seine Perspektive wird durch einige Tagebucheinträge von Alicia ergänzt. Die beginnen einige Zeit vor dem schicksalhaften Tag und bringen zusätzlich Licht ins Dunkel.
Dass Alex Michaelides selbst Erfahrung als Therapeut hat, macht sich in seinem ersten Roman positiv bemerkbar. Auf mich wirken die psychologischen Reaktionen der Beteiligten jedenfalls sehr stimmig. Es kommt ja doch immer wieder tatsächlich vor, dass ein Mensch etwas völlig Irrationales und Unverhältnismäßiges macht, wenn er „nicht bei Verstand ist“, wie man so passend sagt. Was kann einen soweit bringen? Dieser Aspekt hält mich bei der Stange und lässt mich beim Lesen ziemlich flott vorankommen, auch wenn ich mir nicht gerade meine Fingernägel abknabbere vor lauter Spannung. Die Bezeichnung „Psycho“ trägt dieser Psychothriller jedenfalls zurecht.
Der Schreibstil ist unkompliziert, was dem Lesefluss zugute kommt. Es gibt weder im Text noch im Inhalt komplizierte Verschachtelungen. Und doch überrascht mich „Die stumme Patientin“ letztlich dermaßen, dass ich von der Konstruktion des Plots beeindruckt bin. Das hebt diesen Thriller definitiv über den Genredurchschnitt.
Persönliches Fazit
„Die stumme Patientin“ trägt die Bezeichnung ‚Psychothriller‘ zu Recht: gerade die authentischen psychotherapeutischen Ansätze haben mich bei der Stange gehalten und mich bis zur einfallsreichen Auflösung des Plots getragen.
© Rezension: 2019, Marcus Kufner
Psychothriller
Droemer – ISBN: 978-3-426-28214-4
2.05.2019
Kappenbroschur
384
www.droemer-knaur.de