Rezension: Unser großes Album elektrischer Tage | Johanna Maxl

by Marcus Kufner
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“Unser großes Album elektrischer Tage” von Johanna Maxl

 

Gewalt, Popkultur, Schmutz, Feminismus und urbane Slums: In einer eigenwillig in Szene gesetzten Sprache beschreibt Johanna Maxl in ihrem Debütroman das Lebensgefühl einer Generation. Gewitztes Verwirrspiel und tragischer Bericht zugleich, ist ihr literarisches Album die atemlos und schlaglichtartig erzählte Geschichte der Suche nach der offenbar grundlos verschwundenen Johanna, mutmaßlich die Mutter der hier im Kollektiv und einzeln sprechenden Kinder. Im Laufe der Geschichte, in der Erinnerungen an Johanna aufblitzen, Fragen nach ihrem Verschwinden gestellt und teilweise absurde Bruchstücke des mal kindlichen, mal jugendlichen Alltags preisgegeben werden, verlieren die Lesenden mit den Kindern den Boden unter den Füßen, und stürzen ins Offene. Maxls literarische Vermessung fluider Identitäten im 21. Jahrhundert ist die wie mit einer Handkamera gefilmte Dokumentation der Gegenwart: zu nah, zu fern, unscharf und überscharf zugleich. [© Text und Cover: Matthes & Seitz Verlag]

 

Schon nach wenigen Sätzen wird mir hier klar: dieses Buch ist kein gewöhnliches, das wird ein Leseabenteuer der besonderen (sprachlichen) Art. Mit Neugierde und zuversichtlicher Erwartung habe ich mich da hineinbegeben, gespannt darauf, was sich daraus entwickeln würde.

Einen klassischen Handlungsstrang gibt es schon mal nicht, ich konnte jedenfalls keinen dramaturgischen roten Faden erkennen. Zumeist geht es um die verschwundene Johanna. In Rückblicken und Erinnerungen wird sie intensiv charakterisiert. Nach der Heftigkeit, mit der sie vermisst wird, muss es sich bei ihr um einen ganz besonderen Menschen handeln. Der Erzähler gibt jedenfalls nie die Hoffnung auf, sie zu finden oder dass sie eines Tages einfach wieder da sein wird.

Als sie fort war, war uns, als fielen wir durch die Tage. Morgens, wenn wir aufwachten in unseren Betten, öffnete sich unter uns eine Luke, und aus ihr fielen wir in den Tag hinein und durch ihn hindurch, viele Stunden lang, bis auf dem Grund des Tages eine weitere Luke sich öffnete und wir zurück auf unsere Betten fielen. (S. 9)

 

“Unser großes Album elektrischer Tage” von Johanna Maxl

 

Es drängen sich mir einige Fragen auf: Wer ist denn eigentlich der Erzähler? Immer spricht er in der Wir-Form, als wenn er keine eigene Identität hätte. Und sind dieses ‚wir‘ wirklich Johannas Kinder, wie es an ein paar Stellen angedeutet wird, oder ist das eine Symbolik? Und wieso gibt die Autorin der Verschwundenen Figur ihren eigenen Vornamen? Auch da kann oder will so Manches hineininterpretiert werden. Antworten darauf habe ich jedenfalls im Buch nicht gefunden. Das sind Beispiele dafür, wie ich als Leser auf ein unsicheres Parkett gesteuert werde, unfähig, meine Gedanken irgendwo zu verankern. Eine Unsicherheit, die gleichermaßen fasziniert wie verstört. Die Verlassenen scheinen jedenfalls nicht so recht zu wissen, wohin mit sich und der Welt. Das fängt Johanna Maxl auf eine ungewöhnliche Weise ein.

 

“Unser großes Album elektrischer Tage” von Johanna Maxl

 

Das, was das Buch trägt, ist die Sprache. Frei, grenzenlos und ungezügelt kommt sie mir vor. Oft auf eine kraftvolle Art poetisch trägt sie die Gedankenfetzen und Erinnerungsstücke, verklärt oder idealisiert sie immer wieder. Zugegeben, nicht in jedem scheinbar zusammenhanglosen Gefasel erkenne ich einen Sinn, dem jage ich dann auch nicht hinterher. Trotzdem oder gerade deswegen würde ich das Buch am liebsten gleich nochmal von vorne beginnen, um meine Sichtweise auf den Text nochmal zu reflektieren.

 

Persönliches Fazit

Selten hat mich ein Text gleichermaßen so verstört wie fasziniert, ein Leseerlebnis mit großen Höhen aber auch Tiefen. Getragen von einer starken, poetischen Sprache ist Johanna Maxls großes Album jedenfalls nie langweilig.

© Rezension: 2019, Marcus Kufner

 

Unser großes Album elektrischer Tage Book Cover Unser großes Album elektrischer Tage
Johanna Maxl
Roman
Matthes & Seitz – ISBN: 978-3-95757-625-5
22.10.2018
Gebunden
200
www.matthes-seitz-berlin.de
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Johanna Maxl | UNSER GROSSES ALBUM ELEKTRISCHER TAGE – Bookster HRO 21. Mai 2019 - 12:00

[…] UNSER GROSSES ALBUM ELEKTRISCHER TAGE ist beim Verlag Matthes & Seitz erschienen, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Alle Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet Ihr hier. Weitere Rezensionen lest Ihr bei Poesierausch und im Bücherkaffee. […]

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