Rezension: Elly | Maike Wetzel

by Marcus Kufner
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“Elly” von Maike Wetzel

Elly ist weg. Eines Tages verschwindet die Elfjährige spurlos aus dem Leben ihrer Familie. Die Eltern und Ellys ältere Schwester bleiben zurück und versuchen trotz des Verlustes weiterzumachen. Doch die drei können nicht loslassen, Elly bleibt allgegenwärtig, in Gedanken, Taten und Schuldgefühlen. Jeder spielt den Tag, nach dem nichts mehr war wie zuvor, unablässig im Kopf durch. Die Suche nach Elly hört nicht auf, alle Beteiligten schaffen sich ihren eigenen Ersatz für das Verlorene. Elly erzählt eine eindringliche und berührende Geschichte über den Sog von Trauer und Hoffnung – darüber, wie eine Familie durch das Verschwinden der Tochter jegliche Gewissheiten verliert. Maike Wetzels Roman besticht durch seine fesselnde Atmosphäre und sprachliche Brillanz. So entsteht das facettenreiche Bild einer Familie, deren Sehnsucht nach dem Verlorenen die Wirklichkeit verdrängt. [© Text und Cover: Schöffling Verlag]

 

Das ist wohl der ‚Worst Case‘ für Eltern: wenn ein Kind spurlos verschwindet und die Frage über Jahre unbeantwortet bleibt, was mit ihm passiert ist. Ist Elly ‚nur‘ abgehauen? Aber wieso? Was haben die Mutter oder der Vater falsch gemacht? Oder ist doch Schlimmeres passiert – ist sie tot? Oder wird sie in irgendeinem Keller gefangen gehalten, wird sie gefoltert, missbraucht? Keine Möglichkeit, die nicht gedanklich durchgespielt wird von Hamid und Judith, Ellys Eltern. Wie sie und Ellys Schwester Ines mit der Ungewissheit umgehen, darum geht es in diesem Roman.

Es sind vor allem die drei verbliebenen Familienmitglieder, die sich im Buch als Ich-Erzähler abwechseln. Das sind drei sehr verschiedene Perspektiven, die mir ein umfassendes Bild vermitteln, was ihnen der Verlust bedeutet. Vor allem macht es einsam, denn jeder der drei muss seinen eigenen Weg finden, damit umzugehen und das eigene Leben weiterzuführen. Trotz Psychotherapie und Tabletten ist es ein Balanceakt am Rande des emotionalen Abgrunds.

 

“Elly” von Maike Wetzel

 

Besonders schwierig ist die Situation für Ines. Sie vermisst ihre jüngere Schwester nicht nur, sie muss auch noch Rücksicht auf die schwer angeschlagenen Eltern nehmen. Sie kann sich nicht die Freiheiten erlauben, die Teenager sich üblicherweise herausnehmen. Das würde in unverheilte Wunden schlagen.

Heimlich bin ich wütend auf meine Schwester. Sie nimmt mir alles weg. Ich habe kein Recht, fröhlich zu sein, wenn meine Schwester leidet, wenn sie vielleicht tot ist, wenn sie allein in einen Kerker gesperrt, vergewaltigt, ohne Sonne, ohne vernünftige Nahrung vegetiert. Elly ist weg. Es gibt nichts anderes, was zählt. (S. 66)

Selbstverständlich will auch ich die ungemein spannende Frage beantwortet haben, was aus Elly geworden ist. Gut fand ich, dass das Buch hierbei nicht auf der Stelle stehen bleibt. Da steckt in diesen leider schnell gelesenen 152 Seiten einiges drin. Mehr verrate ich darüber hier natürlich nicht.

Ich finde es herausragend, wie sich Maike Wetzel diesem sensiblen Thema nähert. Mit meist kurzen, schnörkellosen Sätzen transportiert sie die Tragweite der Gefühle von Ellys Familienmitgliedern kraftvoll und wuchtig ohne auf irgendeine Art zu emotional zu werden. Ihr besonderer Schreibstil trägt viel dazu bei, dass ich den Charakteren sehr nahekomme. Den Kern ihrer ungewöhnlichen Ansätze kann ich jedenfalls jederzeit sehr gut nachspüren.

 

Persönliches Fazit

Die Erfahrung von Verlust und den Umgang mit der Ungewissheit vermittelt Maike Wetzel ebenso kraftvoll wie stilsicher. Mich hat sie damit von Beginn an mitgenommen und bis zum Ende begeistert.

© Rezension: 2019, Marcus Kufner

 

Elly Book Cover Elly
Maike Wetzel
Roman
Schöffling – ISBN: 978-3-89561-286-2
7.08.2018
Gebunden
152
www.schoeffling.de
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