Adèle, Mitte 30, ist eine Ruhelose, eine Suchende, eine Nymphomanin, eine ihren eigenen Zwängen ausgelieferte Frau. Es erscheint auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar, denn rein oberflächlich gesehen hat sie nichts zu beklagen. So eine typische Denke: Verheiratet, gut situiert, ein Sohn, ein Job in Paris, der das Reisen mit einschließt. Was kann an so einem Leben denn nur verkehrt sein? Nein, so einfach ist es nicht…
„Sie erinnert sich an nichts Genaues, doch Männer sind die einzigen Bezugspunkte ihres Daseins. Zu jeder Jahreszeit, jedem Geburtstag, jedem Ereignis in ihrem Leben gehört ein Liebhaber mit verschwommenen Zügen. Ihr Vergessen ist durchzogen von dem beruhigenden Gefühl, im Verlangen der anderen tausendfach gelebt zu haben.“
Adèle führt einen inneren Kampf, ein Ringen. Da ist diese Einsamkeit, diese Leere, dieses „Nicht dazugehören“. Sie verachtet die Menschen um sich herum, aber vor allem sich selbst. Sind es Sehnsüchte nach dem Anderen, nach dem besonderen Kick? Ist es reines Begehren? Oder ist es ein verzweifeltes Auffüllen der inneren Leere? Ein Herausstoßen aus der Teilnahmslosigkeit, in der sie gefangen ist. Ein Drang, sich zu spüren, die Taubheit zu durchdringen? Sie sucht nach schnellem und brutalem Sex. Ein Schlag und plötzlich ist da etwas. Schmerz. Ein Spüren, ein Empfinden…
„Sie will, dass man sie packt, dass ihr Kopf gegen die Scheibe prallt. Sobald sie die Augen schließt, hört sie die Geräusche: das Stöhnen, das Klatschen der Körper. Ein nackter, keuchender Mann, eine Frau, die kommt. Sie will nur das Objekt inmitten einer Meute sein. Gefressen, ausgesaugt, mit Haut und Haar verschlungen werden“.
Danach das Heimkehren. Die kurze Reue, die Angst, ihr persönliche „Insel“, Ihren Flucht-und Rückzugspunkt, ihren sicheren Platz zu verlieren, all das zu verlieren. Es währt nur kurz, das innere permanente Drängen gewinnt schnell wieder die Oberhand. Es sind tiefe Abgründe, an denen Adèle entlang wandelt – der Balanceakt am Rande ist nervenaufreibend, und irgendwann passiert es. Ein kurzer Moment, eine Unvorsichtigkeit und schon gerät alles aus dem Takt, sie verliert das Gleichgewicht und sie fällt …
Leila Slimani schreibt tiefgehend über die Abgründe unserer Zeit.
Ihr Doppelleben fliegt auf und damit kommt auch ihr Ehemann zu Wort. Durch den Wechsel der Perspektiven bekomme ich zwei Denkweisen geliefert. Das rationale Denken ihres biederen Mannes, der nicht aus seiner Haut kann, das Problem in Krankheit sieht, die (Er)Lösung sicher ärztlich/therapeutisch herbeigeführt werden kann. Dieser Perspektivenwechsel regt mich noch mehr zum Nachdenken an und den darauffolgenden Dreh ahnt man schon, sieht ihn wie einen Schnellzug auf sich zurollen, unaufhaltsam…
Sind diese Abgründe geschuldet unserem rasanten und komplizierten Lebenswandel und unserer Gesellschaft? Leila Slimani deutet das Warum an, lässt aber dennoch genügend Spielraum für eigenes Nachdenken. Provokativ, schmerzlich, brutal, schonungslos offen und ehrlich. Schockierend und absolut tief gehend… es wird noch lange in meinem Kopf bleiben, soviel ist klar.
2019, © Alexandra Stiller
Roman
Luchterhand Verlag | ISBN: 978-3-630-87553-8
2019
Hardcover mit Schutzumschlag, 224 Seiten
www.randomhouse.de
2 comments
[…] FAZ I Literat(o)ur I Bücherkaffee […]
Liebe Alexandra,
sehr gute Rezension. Ach ja, das heimliche sexuelle Doppelleben der gutsituierten Frauen aus Paris! Das liest bei uns unterm Landvolk jeder. “Literatur” eben. Da kann man ja mal, da geht das. “Das rationale Denken ihres biederen Mannes” ist fast schon zuviel. Das hätte nicht gebraucht, oder?
Grüße!
Thorsten J. Pattberg, Autor der Lehre vom Unterschied