Ein Buch, das mit einem Leichenfund beginnt, könnte man für einen Krimi halten. Reflexartig fragt man sich: Was ist passiert, wer hat das getan und warum? Dass „Saison der Wirbelstürme“ kein Krimi ist, merkt man daran, dass noch spannender als diese Fragen das Umfeld und die darin agierenden Personen sind.
Das mexikanische Hinterland scheint schon vor langer Zeit stehen geblieben zu sein. Was hier noch an Aberglauben existiert wirkt auf mich geradezu mittelalterlich. Obwohl die meisten Bewohner längst Christen sind, zweifelt keiner wirklich an der Existenz von Geistern. Nur so kann auch der zweifelhafte Ruf einer Hexe aufrechterhalten werden.
So sind die Weiber, wenn sie einen festzurren wollen: Sie nehmen ein paar Tropfen von ihrem schmutzigen Blut und träufeln es dir heimlich ins Wasser oder in die Suppe oder schmieren dir einen Tropfen auf die Ferse, während du schläfst, und das reicht, um dich ganz vernarrt zu machen, so wie du es jetzt in die Norma bist, merkst du nicht?
Ein antiquiertes Rollenbild
Ähnlich altmodisch ist das vorherrschende patriarchische Rollenbild. Die Mädchen werden von Kindesbeinen an klein gehalten. Die Jungs können machen, was sie wollen, und sie bekommen immer Recht. Die Mädchen werden zur Hausarbeit und zum Kinderhüten verdammt, und wenn sie einen Jungen verpetzen, werden sie als Lügnerinnen beschimpft. Es ist schon ein erstaunliches Phänomen, dass gerade die, die selbst darunter zu leiden hatten, es genauso bei ihrem Nachwuchs weitertreiben. So ergeht es auch Yesenia, die unter der Knute ihrer Großmutter steht. Sie leidet sehr darunter, dass sie für ihre jüngeren Geschwister verantwortlich gemacht wird und für jeden kleinen Fehler hart bestraft wird, während ihr Cousin mit jeder Schweinerei durchkommt und dafür auch noch angehimmelt wird. Es mangelt an Vorbildern, und so ist es kein Wunder, dass die Kinder die Fehler der älteren wiederholen.
Arme Dicke, hatte immer gedacht, sie würde studieren und Lehrerin werden, aber daraus wurde nichts, denn auch wenn sie immer sagte, dass sie irgendwann ihren Abschluss nachholen würde, hatte sich die dumme Kuh in dem Jahr, als die Großmutter sie aus der Schule nahm, schon mit einem Töchterchen angesteckt, der Vanessa, und vorbei war‘s mit dem Abschluss.
Fernanda Melchor hat ihren Roman sehr gut komponiert: Neben Yesenia erfahren wir noch aus der Perspektive weiterer Beteiligter, wie es zum Tod der Hexe kam. Dabei verschiebt sich das Bild, das aus einer Ansicht entsteht, öfter nochmal deutlich, wenn ich die Sichtweise eines anderen erhalte. So bekomme ich im Laufe der Zeit eine immer bessere Übersicht über die tatsächlichen Geschehnisse.
Mein Gesamteindruck von „Saison der Wirbelstürme“ ist ziemlich düster.
Hier herrschen Gewalt und Missbrauch – psychisch, körperlich und sexuell. Jeder, der sich einem anderen gegenüber stärker fühlt, macht ihm das auf wenig subtile Art klar. An die korrupte Ortspolizei braucht man sich gar nicht erst wenden, die haben dieselben Methoden und ihre eigenen Interessen. Melchor stellt ihre Landsleute überspitzt negativ dar. Damit bewirkt sie allerdings sehr geschickt, dass mich die Vorgänge in ihrem Roman nicht kalt lassen.
Genauso rau und derb wie der Umgang in den Dörfern ist Melchors Sprache. Da darf man als Leser nicht empfindlich sein. Es ist aber nicht so, dass der Text nur durch seine Ausdrucksweise hart wirkt, vielmehr trägt sie dazu bei, die destruktive und fatalistische Atmosphäre zu tragen. Die Autorin schreibt offensichtlich gerne lange Sätze. Manchmal wusste ich am Ende des Satzes nicht mehr, wie er begonnen hat. Nach einer Gewöhnungsphase habe ich allerdings in einen guten, flüssigen Rhythmus gefunden.
Persönliches Fazit
„Saison der Wirbelstürme“ ist nichts für empfindliche Leser. Die derbe Sprache passt aber zu den rauen Umgangsformen im mexikanischen Hinterland, die Fernanda Melchor durchaus überzogen darstellt. Die Härte und die gelungenen Perspektivwechsel hatten mich jedenfalls beeindruckt und einen starken Sog bewirkt.
© Rezension: 2019, Marcus Kufner
Roman
Wagenbach – ISBN: 978-3-8031-4246-7
14.03.2019
ebook
240 (Printausgabe)
www.wagenbach.de