Isabel Bogdan | Laufen || Rezension

by Wolfgang Brandner
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Isabel Bogdan - Laufen - Rezension

Isabel Bogdan | Laufen || Eine Ich-Erzählerin wird nach einem erschütternden Verlust aus der Bahn geworfen und beginnt mit dem Laufen. Erst schafft sie nur kleine Strecken, doch nach und nach werden Laufen und Leben wieder selbstverständlicher. Konsequent im inneren Monolog geschrieben, zeigt dieser eindringliche Roman, was es heißt, an Leib und Seele zu gesunden. Isabel Bogdan, deren Roman »Der Pfau« ein großer Bestseller wurde, betritt mit diesem Buch neues Parkett. Eine Frau läuft. Schnell wird klar, dass es nicht nur um ein gesünderes oder gar leichteres Leben geht. Durch ihre Augen und ihre mäandernden Gedanken erfährt der Leser nach und nach, warum das Laufen ein existenzielles Bedürfnis für sie ist. Wie wird man mit einem Verlust fertig? Welche Rolle spielen Freunde und Familie? Welche Rolle spielt die Zeit? Und der Beruf? Schritt für Schritt erobert sich die Erzählerin die Souveränität über ihr Leben zurück. [Text & Cover: © Kiepenheuer & Witsch]

 

Im Kopf ein Knäuel an Gedanken, das sich erst entwirren muss, Kilometer um Kilometer. Das Laufen, die alltäglichen Erledigungen, wieder das Laufen, Beobachtungen entlang der Strecke, der Schmerz in den Beinen, den man niederkämpft … und schließlich, irgendwann jener Schmerz, der nicht körperlich ist.

Eine Frau hat einen Verlust erlitten. Um sich selbst abzulenken, beginnt sie mit dem Laufen. Wer sie ist und um welchen Schicksalsschlag es sich handelt, das wird man erst nach und nach im Text erfahren. Zunächst aber läuft sie, kämpft den schweren Kampf gegen sich selbst, hat weder Atem, noch Energie für ausführliche Erklärungen. 

Ich kann nicht mehr.

Dieser erste Satz könnte in einer anderen Geschichte ganz am Ende stehen. Hier markiert er den Anfang, eine Zäsur im Leben der Ich-Erzählerin. Wer gerade mit dem Laufen beginnt, kennt ihre Situation ganz genau. Der Anfang ist das allerschwerste, die ersten Schritte des Laufs, der erste Lauf der Saison. Von einem Ankerpunkt am Weg treibt man sich zum nächsten – einer von ihnen wird der sein, den man nur mehr gehend erreicht.

“… wie ich, die ich laufen wollte, um nicht denken zu müssen, und jetzt nicht mehr laufen kann, ohne solchen Unfug zu denken.” (S. 65)

Die Ich-Erzählerin läuft von ihrem Schmerz davon, läuft, um ihr Gedankenkarussell zum Stillstand zu bringen, und dennoch dreht es sich in einem fort. Der Text ist ein Monolog dieser Läuferin, eine unaufhörliche Aneinanderreihung von Gedanken. Er ist eine Parabel auf das Laufen mit den ersten tapsigen Schritten zu Beginn, mit Phasen der Schwerelosigkeit, mit der wiederkehrenden erdrückenden Müdigkeit, mit viel vergossenem Schweiß. Als der Puls des Textes gleichmäßiger wird, findet sich langsam eine Ordnung in dem Gedankenknäuel. Man erfährt das Alter der Erzählerin (43) und ihren Beruf (Bratschistin in einem Orchester). Ihr Ehemann hat sich nach einer Phase der Depression das Leben genommen, und so reiht sie Kilometer um Kilometer aneinander. Stets dient ihr ein Gedanke wie eine Wolke am Horizont als Orientierungspunkt, der dann zerfasert und im Gebüsch am Straßenrand hängen bleibt. Das wiederkehrende “ein-atm-en aus-at-men aus-at-men” ist wie der Rhythmus der Schritte, der ihre Aufmerksamkeit auf den erdigen Untergrund zurück- und zu einer neuen Gedankenwolke zwingt. 

Mit der Ausdauer wächst das Selbstbewusstsein

Ursprünglich waren es Blogs, durch die die Protagonistin wie durch ein Fenster in das Leben anderer Menschen blickte, und Casual Games, mit denen sie ihren Schmerz betäubte. Sie erzählt in Anekdoten von ihrem Alltag im Orchester, den Freunden, von denen sie aufgefangen wird, den Schwiegereltern, die sie niemals akzeptiert haben. Und immer wieder, als wäre es der Mittelstreifen auf der Straße, taucht die Einsamkeit in ihrem Kopf auf. Eine Einsamkeit, die nicht mit Bachblüten zu behandeln ist, die als Sehnsucht nach Umarmungen spürbar wird und die zu Weihnachten und zu Silvester besonders schmerzt. Mit der Ausdauer der Protagonistin wächst die emotionale Distanz zu ihrem Verlust ebenso wie ihr Selbstbewusstsein:

“Laufen ist gut, um den eigenen Körper zu spüren, noch besser wäre es, einen anderen Körper zu spüren (…).” (S. 152)

Sie fasst den Mut, über Veränderungen in ihrem Leben nachzudenken, sogar, ob sie es wagen darf, sich erneut zu verlieben. Zwischen den Zeilen nagt als dauernder Begleiter der Zweifel an ihr: Was, wenn der Schmerz, den sie erfolgreich von der Seele auf den Körper verlagert hat, den sie sich Schritt für Schritt in die Gelenke stampft, plötzlich erträglich wird, vielleicht sogar ganz verschwindet? Was, wenn die Erinnerung ebenso wie der Schmerz zu verblassen droht? Wenn die ursprüngliche Motivation, sich die Schuhe zu schnüren, nicht mehr jene Kraft ist, die sie jeden Tag aus dem Haus treibt? 

Schließlich stellt sie fest, dass das Laufen nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Seele widerstandsfähiger gegen die Kälte macht. Die vielen Schritte zeichnen den Weg der Versöhnung mit sich selbst. Sie sind die Erfahrung, dass es möglich ist, loszulassen und trotzdem verbunden zu bleiben.

Persönliches Fazit

Der zweite Roman von Isabel Bogdan verarbeitet das “Laufen” zu einer kurzen, schnörkellosen Parabel auf einen Lebensabschnitt mit seinen zahllosen vorüberziehenden Gedanken, der Witterung, die den bekannten Untergrund ständig verändert.

© Rezension: 2019, Wolfgang Brandner

 

Weitere Besprechungen zu “Laufen” von Isabel Bogdan:

Laufen Book Cover Laufen
Isabel Bogdan
Kiepenheuer & Witsch | ISBN: 978-3-462-05349-4
2019
gebunden mit Schutzumschlag, 224 Seiten
https://www.kiwi-verlag.de
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