Viele literarische Werke widmen mit der Zeit des Nationalsozialismus. Viel seltener dagegen kann man über das Leben nach dessen Ende lesen. Die österreichische Schauspielerin, Journalistin und Autorin Hertha Pauli (1906 – 1973), selbst jüdischer Abstammung und nach dem Anschluss an Deutschland geflohen, beschäftigt sich in ihrem Roman „Jugend nachher“ aus dem Jahr 1959 mit den Nachwirkungen dieser bedrückenden Ära. Ein spannendes Thema, wie ich finde.
Als Ich-Erzählerin tritt die knapp fünfzehnjährige Irene auf. Sie ist als letzte Überlebende aus einem KZ befreit worden, ihre Familie wurde von den Nazis ermordet. In dem Lazarett, in dem sie wieder aufgepäppelt wird, lernt sie den gleichaltrigen Michael kennen, der ihr von seinen Freunden erzählt. Das ist für sie eine Gelegenheit, Anschluss zu finden und wo dazuzugehören. Dass sie Jüdin ist, verschweigt sie deshalb lieber.
Einmal wollte ich nicht nur bei denen dabei sein, die umgebracht werden – aber das geht scheint’s nicht. (S. 164)
Bei einem Picknick im Grünen lernt Irene Michaels Gang kennen. Eine Gruppe Jugendlicher, die es sich gutgehen lässt. Vor allem „Babyface“ Toni hat es ihr gleich angetan, den will sie unbedingt wiedersehen. Kann aber jemand, der sein Leben lang nur Krieg kennt, eine sorglose Jugend verbringen? Was es mit der Gruppe tatsächlich auf sich hat und wieso alle so viel Ehrfurcht vor ihrem Anführer Wolf haben, erfahren wir als Leser genauso wie Irene erst Stück für Stück. Es gibt ein ganzes Geflecht von Lügen zu durchleuchten, kaum einem kann sie glauben.
Ich habe den Eindruck, dass die Jungs sich die Nazis als Vorbild genommen haben. „Führerstruktur“ nennt das Wolf. Man sieht ja auch heute wieder, dass bei einigen einfache Antworten gut ankommen, und manch einer überlässt das Denken gern einem charismatischen Anführer. Die psychischen Auswirkungen auf die Jugendlichen, die für den Kriegseinsatz noch zu jung waren, arbeitet Hertha Pauli charakterlich sehr unterschiedlich und eindrücklich aus. Aber auch Irene erlebt einige dramatische Momente. Dass ich die intensiv miterleben kann, liegt hauptsächlich an dem anschaulichen Schreibstil der Autorin. Sie versteht es, immer wieder zu diesen Höhepunkten hinzuführen. Dabei lässt sie den Umgang untereinander, wie er damals üblich war, sehr lebendig werden. Da fühle ich mich mitten hineinversetzt in die Zeit direkt nach dem Krieg, ohne dass der Text in irgendeiner Weise angestaubt wirkt. Das macht „Jugend nachher“ zu einem eindringlichen, spannenden und kurzweiligen Leseerlebnis inklusive eines latenten psychologischen Gruselfaktors.
© Rezension: 2019, Marcus Kufner
Weitere Stimmen zum Buch:
Roman
Melina – ISBN: 978-3-903184-40-4
3.09.2019
Gebunden
260
milena-verlag.at