Das Erbe | R.R. Sul

by Marcus Kufner
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“Das Erbe” von R.R.Sul

Was wird aus einem Menschen, dem von klein auf eingeflüstert wird, er sei unheilbar krank? Als Kind schlief Wolf tagsüber, nachts war er wach. Die Wohnung durfte er nur mit einem Motorradhelm verlassen – er habe die Mondscheinkrankheit, behauptete die Mutter. Als ein Arzt ihre Lüge aufdeckt, bringt sie sich um. Heute, als Erwachsener, lebt Wolf zurückgezogen in seiner Wohnung, die Wände verkleidet mit Puzzles. Ein Mann taucht auf, der sagt, er sei sein Bruder. Freddy wirkt rätselhaft auf Wolf, ein Mensch ohne moralischen Kompass, trotzdem nimmt Wolf sich seiner an. Und wird erneut hineingezogen in einen bedrohlichen Kampf um die Wahrheit seines eigenen Lebens. Rau, dunkel schillernd und soghaft erzählt ›Das Erbe‹ vom Vermächtnis einer zerstörerischen Familie. [© Text und Cover: dtv Verlag]

 

„R.R. Sul möchte unerkannt bleiben. Der Name ist ein Pseudonym.“ Diese knappe Beschreibung des Autors lässt mich aufhorchen: Das muss ja ein dramatischer Text sein. Und vor allem muss der Inhalt des Buchs ja ziemlich nahe an der Realität sein, wenn der Urheber nicht damit in Verbindung gebracht werden will. Ich war gespannt, wo das hinführen würde.

Wolf ist der Ich-Erzähler in diesem Buch. Ihn begleiten wir mehrere Abschnitte seines Lebens, beginnend mit seiner Kindheit, in der er vor allem Ausgrenzung erfährt. Da er nur nachts raus darf zum Spielen, hat er kaum Kontakt zu anderen Kindern. Erst als er einen Helm zum Schutz vor der Sonne bekommt, kann er an einem gewissen sozialen Leben teilnehmen. Derartig ausgestattet ist ihm Hohn und Spott allerdings sicher. Auch wenn dann festgestellt wird, dass die Sonne ihm keineswegs schadet und er seine Maskerade aufgeben kann, stellt sich die Frage, welche Weichen das für seinen weiteren Lebensweg gestellt hat. Bleiben da nicht psychische Narben zurück?

Ich lief allein zur Schule, zum Fußball, auf Geburtstagsfeste. Ich lebte wie jedes andere Kind. Mit dem Unterschied, dass ich das Leben eines Jungen in meinem Alter spielte. Ich wusste, wie das ging. Das hatte ich beobachtet. Unter dem Schutz meines Helms. Als meine Mutter noch bei mir war. (S. 23)

 

Eindeutig zweideutig

„Das Erbe“ ist ein zweideutiger Titel: Wolf erbt nicht nur die psychologische Belastung, er erbt von seiner Mutter und seinem Großvater auch Geld. Und zwar so viel, dass er sich erstmal komplett zurückziehen kann und nicht mehr vor die Tür muss. Damit ist er zufrieden, er hat nicht das Bedürfnis, irgendetwas zu unternehmen. Irgendwann muss er sich aber doch einen Job suchen und wieder unter Menschen gehen. Zufällig trifft er Lina wieder, die einzige, die ihn als Kind nicht gehänselt hat. Ob sie ihn dazu bringen kann, ein „normales“ Leben zu führen?

 

“Das Erbe” von R.R.Sul

 

Egal wie gut es für Wolf läuft, ich habe ständig das Gefühl einer latenten Bedrohung. Das kommt wohl auch von seinem Halbbruder Freddy, der noch gestörter zu sein scheint als Wolf. Immer wenn er auftaucht, sorgt er für Unruhe. Für mich der unkalkulierbar, und damit ist für mich auch völlig unklar, wie Wolfs Geschichte verlaufen und ausgehen wird. Die Spirale der Abgründigkeit und Manipulation zieht sich langsam aber sicher immer enger um ihn zusammen. Das macht das Buch spannend und fesselt mich.

Wir waren die einzigen Gäste. Tischdecken, Unmengen Besteck. Weingläser. Wassergläser. Servietten. Mit Samt gepolsterte Stühle. Eine lange, schmale Kerze. (S. 175)

Der Text glänzt mit einer knappen, aber sehr ausdrucksstarken Sprache. Ich habe den Eindruck, dass die Autorin bzw. der Autor kein Neuling ist im Literaturbetrieb. Da ist kaum ein Wort zu viel. Für mich funktioniert das Emotionale gerade dadurch, dass es nicht explizit ausgetreten wird, sondern mich in einer kurzen, nüchternen Weise konfrontiert. Das weicht vom Standard ab, transportiert den Inhalt aber sehr akkurat. Das macht diese ungewöhnliche Familiengeschichte zu einem packenden, intensiven und sehr kurzweiligen Leseerlebnis.

© Rezension: 2019, Marcus Kufner

 

Weitere Stimmen zum Buch:

 

Das Erbe Book Cover Das Erbe
R.R. Sul
Roman
dtv – ISBN: 978-3-423-28199-7
16.09.2019
Gebunden
224
dtv.de
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