Die Familie waren meine Mutter und ich. Unser Stammbaum fing mit uns an und endete mit uns. Gemeinsam waren wir eine Binse, eine Art Aloe, die überall wachsen kann, Wir waren klein und giftig, bestanden fast nur aus Fasern, vielleicht, damit es nicht weh tat, wenn man ein Stück von uns abriss oder sogar die ganze Wurzel. Wir waren fürs Widerstehen geschaffen. […] Wir erwarteten niemanden, genügten eine der anderen.
… und dann steht Adelaida Falcón in Caracas auf dem Friedhof am Grab ihrer Mutter. Alleine, trostlos. So viele Tote, da geht keiner mehr auf eine Beerdigung. Und viel zu gefährlich ist es ohnehin, zu lange auf auf de Strasse zu sein. Die Kinder der Revolution, die Hijos de la Revolución, sind überall. Schüsse zu hören gehört mittlerweile zur Tagesordnung. Hunger zu haben, auch. Widerworte oder gar Demonstrationen gegen die Regierung gleichen einer Art quälendem Selbstmordakt, denn Menschenrechte interessieren nicht mehr.
Alles schwindet in Venezuela: Menschen, Orte, Freunde, Erinnerungen, Ruhe, Frieden, Vernunft … statt dessen nehmen Verzweiflung, Frust und Depression zu. Eine gefährliche, explosive Mischung. Da bleibt keine Zeit für Tränen und Trauer, diesen Luxus kann man sich nicht zugestehen in diesen Zeiten. Adelaide fühlt sich selbst innerlich tot. Aber sie gibt sich nicht auf, kämpft einen schier hoffnungslosen Kampf um ihre Wohnung, ihr Leben, ihre Existenz. Dabei wird sie härter und härter und muss Entscheidungen treffen, die sie ihr Leben lang nicht mehr loslassen werden …
Jetzt läuft alles aus dem Ruder: Dreck, Angst, Schießpulver, Tod und Hunger. Als du im Sterben lagst, ist das Land verrückt geworden. Um zu leben, mussten wir Dinge tun, von denen wir uns nicht hätten träumen lassen, dass wir sie tun könnten: plündern oder schweigen, dem anderen an die Kehle gehen oder wegsehen.
Karina Sainz Borgos eindringliches Debüt geht absolut unter die Haut.
“Nacht in Caracas” ist zwar ein fiktiver Roman, aber einige Episoden und Figuren lehnen sich an reale Vorfälle an. Sie arbeitet auf literarische Weise auf und erschafft mit Adelaida eine Protagonistin, die als Sprachrohr fungiert und uns erzählt, wie es ist, in einem Land zu leben, dass mittlerweile zu den gefährlichsten der Welt zählt. Es ist eine wütende, eine explizite Sprache, die man nur allzu gut nachvollziehen kann, denn das Elend, die Brutalität, das ist real in Venezuela. Sie rüttelt und es fällt nicht leicht. Aber Geschichten wie diese sind immens wichtig, gehören unbedingt gelesen.
© 2019, Alexandra Stiller
Weitere Stimmen zum Buch:
Roman
S. Fischer Verlag | ISBN: 978-3-10-397461-4
2019
224 Seiten, gebunden
www.fischerverlage.de