Paris im Jahr 1939. Albert Kahn liegt alt und krank in seiner Villa. Das Haus hat längst nicht mehr den Glanz vergangener Zeiten, kein Gärtner kümmert sich mehr um den japanischen Garten, keine Köchin und kein Hausmädchen kümmern sich um den Haushalt. Keine illustren Gäste wie Albert Einstein oder James Joyce kommen mehr zu Besuch. Nicht mal die Villa gehört ihm noch. Allein der treue Alfred Dutertre ist noch da, den Kahn 1905 als Chauffeur eingestellt hat.
Eine ungewöhnliche Idee
Dutertre ist der Ich-Erzähler in diesem Roman. Er erinnert sich zurück an das Leben mit Albert Kahn vor dem Börsencrash, als der noch über ein fast unermessliches Vermögen verfügte. Nach der Erfindung der Farbfotografie hatte Kahn die Idee, die Kulturen der Erde in einem Archiv zusammenzustellen. Auch wenn das heute obsolet erscheint, wenn dank des Internets jede Information und Dokumentation mit wenigen Klicks aufgerufen werden kann, ist es doch ein faszinierendes Projekt. Auch weil es ein sehr aufwendiges ist: damals konnte man ja nicht mal kurz aus dem Handgelenk mit dem Smartphone Fotos schießen. Der arme Dutertre, der sich eigentlich nur mit Autos auskennt, wird von Kahn dafür als Fotograf eingespannt. Das schöne Ziel, durch das Kennenlernen des Fremden Abneigungen und Ängste abzubauen und damit den Frieden zu sichern, hat er damit leider nicht erreicht. Das ist gerade im Jahr 1939 klar, als in Europa wieder Krieg ausbricht.
Was habe ich erwartet? Das Archiv für den Frieden ist ein sinnloses Instrument, und es steht zu befürchten, dass es kein Tönchen mehr von sich geben wird. (S. 176)
Eine Reise um die Erde
Zwischendurch berichtet Dutertre in Tagebuchform von der Weltreise, die er mit Kahn im Jahr 1908 angetreten hat. In entsprechend knappem Stil erzählt er von den Fahrten per Schiff nach Amerika, Hawaii und Asien und ihrem Aufenthalt dort. Ich habe den Eindruck, dass Lia Tilon sich in ihrem Buch so nah wie möglich an den Fakten orientiert hat. Auch wenn sie es als Roman deklariert hat, scheint sie nur das Notwendigste dazuerfunden zu haben. Das macht das Buch zwar sehr authentisch, mir fehlt es aber an Dramaturgie. Von einer Weltreise vor über hundert Jahren hätte ich beispielsweise mehr spannende Ereignisse erwartet. Auch die Person Albert Kahn bleibt weitgehend unnahbar. Über seine Persönlichkeit ist wohl tatsächlich nicht viel bekannt, er hat sich immer sehr zurückgehalten und sein Archiv in den Vordergrund gestellt. So bleibt er aber auch für mich als Leser nicht wirklich greifbar.
Durch Durertres Beschreibungen will ich natürlich auch mal einen Blick auf ein paar der über 72.000 Fotos werfen, die das Archiv beinhaltet. Am Ende des Buchs gibt es einige Beispiele dafür – Dokumente einer vergangenen Zeit. Mehr davon kann man auf der Homepage des Albert-Kahn-Museums entdecken. (http://collections.albert-kahn.hauts-de-seine.fr)
Mein Fazit
„Der Archivar der Welt“ ist ein Buch über eine spannende Idee und eine authentische Zeitreise an den Anfang des letzten Jahrhunderts. Auch wenn die Dramaturgie und die Entwicklung der Persönlichkeiten etwas hinter meinen Erwartungen an einen Roman zurückbleiben, hat mich Lia Tilon mit ihrer Faszination für Albert Kahns Archiv angesteckt.
© Rezension: 2019, Marcus Kufner
Weitere Stimmen zum Buch:
Roman
dtv | ISBN: 978-3-423-28196-6
20.09.2019
Gebunden
272
www.dtv.de