Ice Cream Star ist die titelgebende Heldin in diesem dystopischen Roman. Vor rund achtzig Jahren brach WAKS aus, eine Art Fieber, das für Erwachsene tödlich verläuft. Viele Jahre gab es Kriege, in denen die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen, untergegangen ist. Die, die noch leben, erreichen gerade mal die Volljährigkeit, bevor die Krankheit auch bei ihnen ausbricht. Das ist keine berauschende Perspektive in einer tödlichen und menschenfeindlichen Welt.
Ice Cream gehört zu einer Truppe von knapp vierzig Leuten, die von dem leben, was sie jagen oder klauen können. Mit anderen Clans sind sie entweder befreundet oder sie nehmen sich vor ihnen in acht. Es ist kein zimperlicher Umgang, der da untereinander herrscht. Da werden von paramilitärischen Gruppen Mädchen entführt und missbraucht, oder man kämpft gewaltsam um Ressourcen. Der Anführer von Ice Creams Gruppe ist ihr Bruder Driver. Der ist achtzehn und zeigt bereits erste Symptome von WAKS. Als Ice Creams ein Gerücht vernimmt, dass es ein Heilmittel geben soll, will sie alles versuchen, Driver zu retten. Aber gibt es diese Medizin tatsächlich, und können sie sie noch rechtzeitig finden? Das sind die Fragen, die den roten Faden dieses Romans bilden.
Eine selbstlose Heldin
Ice Cream ist eine Heldin nach meinem Geschmack: selbstlos setzt sie sich für ihre Truppe ein (sie nennt sie „meine Kinder“) und würde alles für ihren kränkelnden Bruder tun. Sie ist mutig, wenn es sein muss, kämpft aber auch gegen ihre Ängste – tatsächlich ist sie ziemlich oft am Heulen. In Sachen Liebe schwankt sie zwischen einer verbotenen Leidenschaft und einer Beziehung der Vernunft. Das hat reichlich emotionalen Sprengstoff. Sie trifft auf verschiedene Fraktionen wie die militärisch mächtigen Rous (Slang für Russen) oder spanisch sprechende religiöse Fanatiker. Da spielt auch Rassismus eine gewisse Rolle, allerdings anders als wir ihn kennen. Ice Cream selbst ist schwarz, misst dem allerdings keine besondere Bedeutung zu. Denn die weißen Rous sind die Minderheit, ihnen begegnet man mit Misstrauen. Jeder, dem Ice Cream begegnet, ist am intrigieren und verfolgt seine eigene Ziele. Sie weiß nie, wem sie wirklich vertrauen kann. Aber sie ist immer mittendrin im Geschehen.
Eine geniale Ausdrucksweise
Das bemerkenswerteste und wie ich finde großartigste an diesem Roman, ist seine Sprache. Ice Cream ist die Ich-Erzählerin und ihre Ausdrucksweise ist eine ganz besondere. Das klingt so, als wenn sich über Jahrzehnte ein Straßenslang mit einigen neuen Wortkreationen entwickelt hätte. Grammatikalisch ist das ein Alptraum für jeden Deutschlehrer. Das erscheint zunächst sehr ungewohnt, entwickelt aber schnell einen eigenen Rhythmus. Trotz der harten und brutalen Welt haut Ice Cream manchmal aber auch witzige Ansichten zu ihren Beobachtungen raus. Sie kann da sehr erfrischend sein.
Die Catolicos glauben an den Zweistockchristus. Ham diese ganze Bibelgeschichte mit dem Wasserlaufen und den großzügigen Fischen. Wie Jesus von Maria geboren wurde, die ne Jungfrau war. Papa Josef steht pfeifend daneben, hat kein Sex zu tun. (S. 261)
Ich ziehe dafür gleich zwei Hüte: einmal für Sandra Newman, die diese aufwendige Sprachkreation von vorne bis hinten auf über sechshundert Seiten durchzieht, aber auch für Milena Adam, die diesen Irrsinn so gut übersetzt hat, dass die Ausdrucksweise auch in Deutsch hervorragend funktioniert. Ice Creams Geschichte ist eine gelungene Dystopie, durch die Sprache gewinnt sie aber nochmal enorm an Atmosphäre. Das macht „Ice Cream Star“ zu einem ungewöhnlichen Roman und für mich zu einem ganz besonderen Highlight.
© Rezension: 2019, Marcus Kufner
Weitere Stimmen zum Buch:
Roman
Matthes & Seitz | ISBN: 978-3-95757-766-5
30.08.2019
Gebunden
667
www.matthes-seitz-berlin.de