William Melvin Kelley | Ein anderer Takt

by Marcus Kufner
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“Ein anderer Takt” von William Melvin Kelley

Die kleine Stadt Sutton im Nirgendwo der Südstaaten. An einem Nachmittag im Juni 1957 streut der schwarze Farmer Tucker Caliban Salz auf seine Felder, tötet sein Vieh, brennt sein Haus nieder und macht sich auf den Weg in Richtung Norden. Ihm folgt die gesamte schwarze Bevölkerung des Ortes. William Melvin Kelleys wiederentdecktes Meisterwerk “Ein anderer Takt” ist eines der scharfsinnigsten Zeugnisse des bis heute andauernden Kampfs der Afroamerikaner für Gleichheit und Gerechtigkeit. Fassungslos verfolgen die weißen Bewohner den Exodus. Was bringt Caliban dazu, Sutton von einem Tag auf den anderen zu verlassen? Wer wird jetzt die Felder bestellen? Wie sollen die Weißen reagieren? Aus ihrer Perspektive beschreibt Kelley die Auswirkungen des kollektiven Auszugs. Liberale Stimmen treffen auf rassistische Traditionalisten. Es scheint eine Frage der Zeit, bis sich das toxische Gemisch aus Wut, Verzweiflung und Hilflosigkeit entlädt. Mal mit beißendem Sarkasmus, mal mit überraschendem Mitgefühl erzählt hier ein schwarzer Autor vom weißen Amerika. Ein Roman von beunruhigender Aktualität. [© Text und Cover: Hoffmann und Campe Verlag]

 

Bereits 1962 erschien der Debütroman von William Melvin Kelley, der Beginn einer erfolgreichen Schriftstellerkarriere. Er spielt in einer fiktiven Kleinstadt in einem nicht genannten Staat im Süden der USA in den 1950er Jahren. Eine Zeit, als der Begriff „Neger“ noch allgemeiner Sprachgebrauch war (die Bezeichnung „Schwarze“ taucht im Buch nicht auf). Und eine Zeit, als dort die Rassentrennung noch üblich war.

Ist der Kerl komplett verrückt geworden?

Was ist nur in Tucker Caliban gefahren, dass er sein Land verseucht, seine Farm zerstört und mit seiner Familie verschwindet? Weder die weißen noch die schwarzen Nachbarn haben eine Ahnung, warum er das macht. Aber er löst damit etwas aus, denn in den nächsten Tagen folgt die farbige Bevölkerung seinem Beispiel und verlässt ihre Häuser, ihre Stadt, ihr Land. Die Weißen verfolgen dieses Schauspiel ratlos. Sie erkennen den Sinn darin nicht und können die Folgen daraus nicht abschätzen.

Schweigend saßen sie da und dachten darüber nach, was das alles mit jedem Einzelnen von ihnen zu tun hatte und wie sich der nächste Tag, die nächste Woche, der nächste Monat vom vergangenen Tag, der vergangenen Woche, dem vergangenen Monat, von ihrem ganzen bisherigen Leben unterscheiden würde. Keiner war imstande, es zu Ende zu denken.

Eine Frage der Perspektive

Kelley nähert sich der Antwort auf die zentrale Frage des Buchs, warum Caliban diese irrationale Aktion durchzieht, indem er die Perspektive verschiedener Beteiligter darstellt. Dass die allesamt weiß sind, ist ein raffinierter Kniff, denn damit vermeidet er, mit dem anklagenden Zeigefinger auf sie zu zeigen. Entsprechend subtil stellt er den Rassismus dar, der über Generationen in den Köpfen verankert wurde. Da kommen selbst Liberale kaum dagegen an. Wie schön ist es aber auch, wenn man sich nicht durch Mut, Talent oder Intelligenz hervortun muss, sondern allein durch seine Hautfarbe über anderen steht? Solch einfache Formeln sind leider auch heute noch sehr beliebt.

 

“Ein anderer Takt” von William Melvin Kelley

 

Jeder, jeder kann seine Ketten abstreifen. Der nötige Mut, ganz gleich, wie tief er begraben ist, wartet nur darauf, gerufen zu werden. Es braucht nur die rechte Ermunterung, die richtige ermunternde Stimme, dann springt er hervor, brüllend wie ein Tiger.

Kelley erschafft mit seiner Erzählweise geradezu cineastische Bilder. Ich sehe es sehr lebendig vor mir, wie die Weißen auf der Veranda von Thomasons Laden stehen und sich über die Vorgänge mehr oder weniger sinnvoll austauschen. Genauso plastisch erscheinen mir die einzelnen Figuren. Durch ihre Sprache, ihre Ansichten und ihren Umgang in der Familie werde ich förmlich in die Zeit hineingezogen. Trotzdem liest sich der Text frisch und flüssig. Auch die verschiedenen Stilmittel, die der Autor verwendet, funktionieren. Ob in der dritten, in der ersten Person oder in Tagebuchform, seine Erzählweise nimmt mich von Anfang an mit und lässt mich bis zum Ende miträtseln, was konkret die Ereignisse ausgelöst hat. „Ein anderer Takt“ ist ein wichtiger literarischer Beitrag zum Thema Rassismus und unbedingt wert, dass es vor dem Vergessen bewahrt wird.

© Rezension: 2020, Marcus Kufner

 

Weitere Stimmen zum Buch:

 

Ein anderer Takt Book Cover Ein anderer Takt
William Melvin Kelley | Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk van Gunsteren
Roman
Hoffmann und Campe | ISBN: 978-3-455-00626-1
4.09.2019
Gebunden
304
www.hoca.de
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Nacpana-ksiazkami 28. Januar 2020 - 10:56

Das ist wirklich interessant

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