“Die Alpen sehen und sterben” … bereits der Titel verleiht dem Hochgebirge einen verklärenden Glanz, den nur Sehnsuchtsorte wie Rom oder Venedig wie eine wärmende Patina tragen.
Dieses Gefühl auf den vorgegebenen Schauplatz übertragen, erzeugt unmittelbar Bilder, die aus gelbstichigen Heimatfilmen bekannt sind: Eine sattgrüne Almwiese, die von einem kraftstrotzenden, lederhosenbewehrten Naturburschen bewirtschaftet wird, der spätnachts in den Armen einer rotbackigen Blondine mit geflochtenen Zöpfen, deren Körperform sie als archaisches Fruchtbarkeitssymbol qualifizieren würde, die Belohnung für sein hartes Tagwerk einfordert … nachdem diese durch nonverbale Überzeugungsarbeit vor den Avancen des ortsansässigen Wilderers bewahrt wurde.
Das Etikett “Kriminalroman” lässt allerdings den Verdacht keimen, dass der Zusatz “und sterben” nicht allein als hyperbolische Redewendung zu verstehen ist …
Wir sind offensichtlich im Genre des Regionalkrimis gelandet. In einem solchen kommt zu Beginn ein Mensch gewaltsam zu Tode. Die Ermittler, üblicherweise zwei konträre Persönlichkeiten, werden aktiv und entdecken im Zuge ihrer Nachforschungen nicht nur Mordmotiv und Mörder, sondern auch die landschaftlichen und kulinarischen Spezifika der näheren Umgebung.
Obwohl der aktuelle Roman von Isabella Archan auf die erwartbare Weise beginnt, bricht die Handlung bald aus den von dicken Traktorreifen gepflügten Spurrinnen aus. Hauptfigur Mitzi wird im tirolerischen Kufstein Zeugin eines Mordes, kann der Polizei aber keine verwertbaren Angaben liefern. Der verunsicherte Täter folgt ihr in ihre Heimatstadt Salzburg und nimmt Kontakt mit ihr auf. Anstelle jedoch unverzüglich Hilfe bei den Behörden zu suchen, erliegt Mitzi einer morbiden Faszination. Ihr Gegenüber erweist sich nämlich als freiberuflicher Mörder, der ohne fixes Dienstverhältnis oder den Rückhalt durch eine Gewerkschaft seinen Unterhalt von einem Auftrag zum nächsten bestreitet.
Isabella Archans Figuren sind bekanntermaßen keine Nine-to-Five-Versicherungsverkäufer mit monochromem Charakter – auch im vorliegenden Krimi löst sie das implizite Versprechen ein:
Hauptfigur Mitzi trägt den bürgerlichen Namen Maria Konstanze Schlager und ist so ziemlich das Gegenteil einer idealen Tatzeugin. Quirlig, leicht naiv und mit dem Hang, sich in Details zu verlieren, verformen sich ihre Erinnerungen an die Mordnacht in der Einvernahme durch die leitende Kriminalbeamtin Agnes Kirschnagel. Mitzi lebt mit ihrem Freund Freddy, einem aus Ungarn stammenden Fernfahrer in einer Wohnung in Salzburg. Auf der Suche nach sozialem Anschluss landet sie in einer Selbsthilfegruppe für Beziehungssüchtige … eine Szene wie eine kleine Hommage an den Film “Fight Club”.
Ihr gegenüber steht der namentlich unbekannte Auftragsmörder, der von Mitzi als Sam angesprochen werden will. Trotz seines nicht salonfähigen Metiers tritt er als Schöngeist auf, der sich monatlich ein Lieblingswort erwählt. Um Irrtümer zu vermeiden, ist er höflich genug, sich vor jedem Abschluss eines Auftrags der Identität des Opfers zu versichern.
Auf geradezu obsessive Weise hat sich der beurlaubte Kriminalhauptkommissar Heinz Baldur der Jagd nach dem Täter verschrieben, dessen blutige Spur er durch ganz Europa verfolgt. Nach einem traumatisierenden Erlebnis wird er von seinem imaginären Freund Luis begleitet. Diese unfreiwillige Partnerschaft mündet schließlich in einer bedrohlichen Persönlichkeitsspaltung, einer klassischer Komponente aus dem Psychothriller-Baukasten.
Der Roman versteht sich als herrlich absurde Variation der mittlerweile ins Inflationäre wachsenden Regionalkrimi-Sparte. Die vier Abschnitte tragen die Titel “CowboyhutNacht”, “EiernockerlTod”, “MörderMitzi” und “KaiserschmarrnFinale”. Jeder dieser Titel könnte problemlos auch auf dem Cover eines eigenständigen Romans kunstvoll flankiert von einschlägigen Motiven wie Enzian, Berghütte und Gamsbart, zu finden sein. Auch das Cover von “Die Alpen sehen und sterben” wirkt mit den hölzernen Fensterläden mit aufgemalten Herzen auf einer Holzschindelfassade geradezu übertrieben kitschig. Mit diesen Elementen weckt die Autorin nun Erwartungen … die sie ganz bewusst nicht erfüllt: Unter einer “Mitzi” stellt man sich üblicherweise eine ältere Dame mit faltigem Gesicht, Kittel, Dutt und von landwirtschaftlicher Arbeit gezeichneten Händen ab. Die Mitzi in diesem Roman ist 29 Jahre alt, ausgesprochen mitteilungsbedürftig und wird als “durchaus hübsche Person” beschrieben. Auch die Handlung nimmt sehr bald eine scharfe Kurve. Der Weg führt von der sonnenbeschienenen Heimatkrimi-Almwiese in urbane Niederungen und zielstrebig in die zwielichtige Noir-Seitengasse.
Mitzi tanzt auf dem schmalen Grat zwischen Bürgerpflicht als Zeugin und makaberer Sensationslust. Immerhin lernt man nicht allzu oft einen mehrfachen Mörder kennen und wird in dessen Berufsalltag eingeweiht:
‘Wirst du mich töten?’ Mitzi schrie.
Sie erwartete, dass Sam rasch weiterging, so tat, als würde ihr Rufen nicht ihm gelten. Doch stattdessen blieb er am Rand des Bürgersteigs stehen und hielt den Blickkontakt.
‘Wollte ich, habe ich überlegt!’ In nicht minderer Laustärke brüllte er zurück. ‘Aber eine Mitzi killt man nicht!’ ”
(S. 157)
Mitzi verharrt in einem Zustand des Unglaubens ob Sams Metier, wohingegen diesen ihre Furchtlosigkeit überrascht. Im Spannungsfeld zwischen gegenseitiger Neugier und schützender Distanz entwickelt sich eine bizarre, zerbrechliche Beziehung. Diese entfaltet sich in einem Dialog, in dem der Mörder und seine Zeugin einander mit Worten abtasten. Diese wohl kräftigste Szene des Romans dürfte eigentlich gar nicht stattfinden, hier werden Grenzen überschritten, Spielregeln der Zivilisation gebrochen. Wie um dieser Konversation noch etwas Hypothetisches zu geben, die harte Faktizität abzumildern, spielt sich der Schlagabtausch in einem Hotelzimmer ab. Ein Hotelzimmer ist ein steriler, neutraler Ort, in dem man nur kurz verweilt. Durch den Mangel an Individualität könnte ein Hotelzimmer ein Umkleideraum sein, in dem man seine Identität abstreifen und jede beliebige andere überziehen kann. Und nur an einem solchen Ort kann es den beiden Figuren auch gelingen, ihre jeweilige Prägung als etwas Austauschbares zu betrachten.
‘Ich stelle die Fragen. Wenn ich dir also ein Angebot machen würde, Sam, würdest du es annehmen?’
‘Ich dachte, du kennst kaum jemanden richtig.’
‘Gib mir Antwort, sonst hau ich dir eine runter.’
‘Du willst mich ohrfeigen? Hast du keine Angst?’
‘Ich hab so viel Angst, dass ich schon über die Stufe hinaus bin, bei der ich sie noch empfinden kann. Ich bin wieder dran.’ ”
(S. 167)
Eine Beziehung wie diese kann nur an einem aus der Zeit gerissenen Ort ohne Vergangenheit und Zukunft stattfinden. Die Unmöglichkeit der Situation erinnert ansatzweise an den Film “Out of Sight” von Stephen Soderbergh.
In brenzligen Momenten scheint sich Isabella Archan cineastischer Stilmittel zu bedienen. Etwa, als Sam in Mitzis Beisein kurz vor dem Abschluss eines Auftrags steht oder im Showdown im Stadtpark von Kufstein hält sie die erzählte Zeit an. Der Blick der Kamera wechselt zwischen den Figuren, umrundet die Szenerie, wie um dem Leser das Gesamtbild zu vermitteln, bevor die unausweichliche Gewalt die Gegebenheiten neu ordnet.
Isabella Archan entbietet jenen Lesern, die mit ihren anderen Romanen vertraut sind, ihren Gruß. Bevor er beurlaubt wurde, ermittelte Heinz Baldur in seinem eigenen Krimi. Gerichtsmediziner Harro de Närtens aus Köln darf einen kleinen Auftritt absolvieren, und auch die Zahnärztin Dr. Leocardia Kardiff wird lobend erwähnt. Und als ein Seitenhieb auf das Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich darf gewiss folgender Dialog verstanden werden:
‘Willst du an der Bar in meinem Hotel noch was trinken? Quasi ein Schluckerl nach dem letzten Glaserl, wenn ich das richtig ausgesprochen habe, Fräulein Mitzi.”
‘Lass es, Sam. Bei dir klingt unsere Sprachmelodie wie ein atonales Musikstück.’ (S. 119)
Persönliches Fazit
“Die Alpen sehen und sterben” von Isabella Archan ist eine gelungene Parodie auf Regionalkrimis mit einem Hauch von Bonnie & Clyde und einigen verstohlenen Blicken ins Psychothriller-Genre. Die passende musikalische Untermalung dazu wäre wohl “Sympathy for the Devil”.
Regionalkrimi
Emons Verlag | ISBN: 978-3-7408-0541-8
2019
Broschur, 352 Seiten
https://www.emons-verlag.com/