Marina Heib | Die Stille vor dem Sturm

by Wolfgang Brandner
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Marina Heib - Die Stille vor dem Sturm - Thriller - buecherkaffee.depentext_start] Marina Heib | DIE STILLE VOR DEM STURM || Die drei Söhne eines Kieler Reeders freuen sich auf einen sommerlichen Segeltörn mit Freunden. Doch von Anfang an läuft es anders als geplant. Einer der Söhne erscheint nicht beim Ablegen auf Gran Canaria, in der Gruppe gibt es Spannungen und schon kurz nach Reisebeginn muss ein Schiffbrüchiger aufgenommen werden. Dann geschieht ein Mord. Angst und Misstrauen machen sich breit. Und es gibt keine Verbindung zur Außenwelt. Schnell fällt der Verdacht auf den Fremden an Bord. Doch ist er wirklich der Mörder? Als erneut jemand getötet wird, übernimmt Panik das Ruder … [Text & Cover: © Pendragon Verlag]

Ein Mord an einem von der Außenwelt abgeschiedenen Ort mit einer überschaubaren Anzahl an Verdächtigen, das ist eine klassische Situation für einen Whodunnit-Krimi, wie man ihn etwa von Agatha Christie kennt. Die deutsche Autorin Marina Heib will in ihrem aktuellen Thriller buchstäblich frischen Wind in dieses Setting bringen. Anstelle eines alten englischen Herrenhauses, in dem eine Gruppe Adeliger mit distinguierten Manieren einem aus ihrer Runde ein ewiges Schweigegelübde auferlegt, ist der Schauplatz des Geschehens ein Segelboot, mit dem einige angehende Erben deutschen Großkapitals den Atlantik überqueren. Anstelle eins Stromausfalls als spannungssteigerndes Stilmittel bringt der titelgebende Sturm die gesamte Besatzung in existentielle Gefahr.

Marina Heib verschärft die bekannte Krimi-Konstellation, indem sie ihre Figuren zum einen permanent der Naturgewalt aussetzt und zum anderen den Raum stark einengt. Auf einem Segelboot sind die Rückzugsmöglichkeiten für den einzelnen begrenzt, Begegnungen sind unvermeidlich. Durch die Bluttat an Bord steigt außerdem das gegenseitige Misstrauen so weit, dass die verbleibende Privatsphäre aufgelöst wird. Anders als in der Abgeschiedenheit eines Landsitzes schweben die Figuren in doppelter Lebensgefahr: Zum einen ist der Mörder einer von ihnen, zum anderen kann jederzeit und unangekündigt die raue See einen der unerfahrenen Matrosen verschlingen. Schließlich liegen die Nerven blank, Stress und Anspannung steigen. Die Stimmung ist ein Pulverfass und die Explosion nur eine Frage der Zeit.

Gleichzeitig müssen die Leser mit Tim, einem der drei Söhne des Reeders leiden. Tim sollte eigentlich mit an Bord des Segelbootes sein, findet sich jedoch entführt und in den Rumpf eines Schiffswracks gesperrt. Verletzt, mit knapp bemessenen Wasserrationen versorgt und mit einigen Ratten als einzige Gesellschaft werden Zweifel und Ungewissheit zu Folterwerkzeugen, die seinen Überlebenswillen zermürben. Die kurzen immer wieder eingeschobenen Kapitel sind im Präsens gehalten, was einen Kontrast zur übrigen Erzählung bildet. Die Sinneseindrücke und inneren Monologe des Entführten strecken jeden Augenblick, das einsame Martyrium verursacht Abscheu und Gänsehaut:

Es ist still, so still. Die Ratten schlafen irgendwo, auch die Stechmücken legen eine Pause ein. Kein Rascheln, kein Trippeln, kein Summen oder Sirren. Nichts ist zu hören, absolut nichts. Tim hört nur die Stille, er fühlt sie körperlich. Sie ist dickflüssig, fast sirupartig. Sie könnte ihn ersticken. Er wagt kaum, sie einzuatmen. (S. 133)

Wenn Marina Heib zunächst mit der beklemmenden Situation, sowohl auf dem Boot, als auch für den Entführten für guten Wind in den Segeln ihrer Geschichte sorgt, so gestaltet sich dieser Wind doch zuweilen als launisch und scheint zuweilen rasch die Richtung zu wechseln. Anders ausgedrückt: Die Erzählperspektive wechselnd häufig zwischen autorikaler und personaler, zwischen dem Blick von oben und jenem über die Schulter einzelner Figuren. Dadurch wirken alle Charakter gleichwertig, es gibt keine erklärte Hauptfigur, bestenfalls Sympathie- und Antipathieträger. Beim Lesen wird dadurch die Identifikation erschwert, Figuren und Leser atmen nicht dieselbe Luft. Zudem wechselt der Standort des Beobachters oft innerhalb eines Kapitels von einer Figur zur nächsten, eine Sprunghaftigkeit, die gewöhnungsbedürftig ist.
Auf der anderen Seite ermöglicht die Vielzahl an Sichtweisen die größtmögliche Objektivität. Der Autorin gelingt es, ein Minimum an Spuren zu hinterlassen, die üblicherweise entweder zum Täter oder in die Irre führen. Wollen sie dem Täter vorzeitig auf die Schliche kommen, müssen die Leser damit alle erforderliche gedankliche Detektivarbeit selbst verrichten. Hier setzt die Autorin ihre Geschichte einer erheblichen Gefahr aus. Indem sie nämlich die Identifikation mit einer dezidierten Hauptfigur weitgehend verweigert, überlässt sie dem Leser die Wahl: Entweder er bewertet wissbegierig jedes Stück Information, um das Rätsel zu lösen, oder er lässt sich wie in einer Windstille in Richtung Auflösung treiben.

Auch auf sprachlicher Ebene begibt sich Marina Heib in ein Dilemma, das aufzulösen ihr nicht gelingt. Um die Vorgänge auf einem Segelboot so exakt wie möglich zu beschreiben, muss sie sich jenes Vokabulars bedienen, das jeden Knoten, jedes Stück Tuch, jede Laune der Wellen benennt und sinnvolle Kommandos erst ermöglicht.

‘Das Ruder ist blockiert, sie können nicht steuern!’, rief Marie zu Mike hinüber. Sie hatte sich in eine Sorgleine eingepickt und war unterwegs zum Großschotwinsch.” (S. 192

Marie und Mike kamen an der Winsch an und ließen die Großschot kontrolliert ausrauschen. (S. 192)

Marie kniete sich auf Mikes Zeichen vor die Knöpfe der Reffeinrichtung und gab Lose auf das Schothorn. Das Großsegel fing an zu flattern, der Baum begann zu schlagen. Mike holte die Lose aus der Großschot. (S. 194)

Jener Anteil der Leserschaft, der in der Seefahrt tätig ist, wird wohl gebannt an den Zeilen kleben und das Geschehen mit den eigenen Erfahrungen abgleichen. Für den anderen (höchstwahrscheinlich größeren) Anteil der Leser wird es schwierig, der Handlung zu folgen. Besonders Szenen mit hohem Tempo sollten eigentlich den Atem ins Stocken bringen. Wenn man allerdings der Autorin vertrauen muss, dass die Figuren gerade um das nackte Überleben kämpfen und selbst die salzige Gischt im Gesicht nicht verspürt, hat die Action der Handlung wenig Einfluss auf den Puls der Leser.

Auch der Grad der Anspannung an Bord könnte noch näher an den Punkt der Explosion getrieben werden. In diesem Thriller schlagen auf hoher See intime Beziehungen in tiefes Misstrauen um, eine idyllische Ferienreise wird zum erbitterten Überlebenskampf. Obwohl punktuell die Gewalt offen ausbricht, ist jedoch die permanente emotionale Ausnahmesituation oft hinter einer zusätzlichen Abstraktionsebene versteckt. Das Geschehen wirkt weniger wie selbst miterlebt, sondern wie durch eine – wenn auch turbulente – Nachrichtensendung vermittelt. Oft werden Gefühle und Stimmungen nur in einem kurzen Satz angesprochen.

Gemeinsam bereiteten sie einen Salat und ein paar Antipasti vor und deckten den Tisch. Jeder, der zum Schnippeln oder Schneiden ein Messer in die Hand nahm, wurde von den anderen genauestens beobachtet, man ging betont beiläufig auf Sicherheitsabstand. Misstrauen und Paranoia vergifteten die Luft, die Hände zitterten, die Nerven lagen blank, es kam wegen Kleinigekeiten wie etwa der letzten Olive auf dem Teller zu Reibereien. (S. 252)

Möglicherweise sorgt beim Lesen aber auch die eigene Erwartungshaltung für unerwarteten Seitenwind, wenn man versucht ist, Parallelen zum Vorgängerband zu ziehen. Tatsächlich kommen hier die Raffinesse im Ausdruck, die Lust am Spiel mit der Sprache weitaus weniger stark zur Geltung als in “Drei Meter unter Null”. In diesem Thriller hallte der inhaltliche Schrecken auf formaler Ebene nach, zersetzte grammatikalische Strukturen und durchbrach damit eine unsichtbare Grenze zum Leser. Möglicherweise änderte sich die Wahrnehmung beider Romane, läse man sie in umgekehrter Reihenfolge ihres Entstehens …

Persönliches Fazit

“Die Stille vor dem Sturm” von Marina Heib ist ein spannender Psychokrieg auf hoher See mit kleinen formalen Schwächen und viel nautischem Vokabular.

© Rezension: 2019, Wolfgang Brandner

 

Weitere Stimmen zum Buch:

Die Stille vor dem Sturm
Marina Heib
Thriller
Pendragon Verlag | ISBN: 978-3-86532-657-7
2019
Klappbroschur, 400 Seiten
http://www.pendragon.de/
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