
“Wense” von Christian Schulteisz
Um Hans Jürgen von der Wense geht es in diesem nach ihm benannten Roman. Von dem hatte ich bisher noch nie gehört. Was hat er denn wohl vollbracht, dass Christian Schulteisz sogar einen Roman über ihn schreibt? Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Wense hat sich wohl für ungeheuer viele unterschiedliche Dinge interessiert. Wie ein Schwamm liest er sich Wissen an. Er ist Dichter, Komponist, Übersetzer exotischer Sprachen und vieles mehr. Er ist ein Multitalent, aber hat sein Tun auch eine Bedeutung für die Allgemeinheit?
Immer wenn ihn jemand wegen seines Wissens festnageln will, bestreitet er, ein Meteorologe, ein Historiker, ein Zoologe, ein Arzt oder ein Sinologe zu sein. Leute, die zu jedem Thema etwas zu sagen haben, sind ja nicht so angenehm, heute würde man ihn wohl einen Klugscheißer nennen. Essays über das Sitzen oder Schaukeln kann man ja genial finden, aber wem bringen solche Gedankenspiele etwas? Im Buch findet sich quasi exemplarisch eine solche Abhandlung über den Begriff ‚Stab‘. Es geht schon eine gewisse Faszination davon aus, den in allen Bedeutungen zu betrachten, aber hat das einen darüber hinausgehenden Wert? Wense sieht sich tatsächlich selbst recht kritisch. Trotzdem geht er geradezu zwanghaft seinen Steckenpferden nach.
Sein ganzes Werk kommt ihm fade vor verglichen mit den Ereignissen, niedlich und anmaßend, eine Mischung aus Menagerie und Mulang, zwangsbesiedelt mit den Kuriositäten unterschiedlichster Kulturen, Zeiten, Fächer. (S. 118)
Der kurze Zeitabschnitt, in dem wir Wense begleiten, spielt während des Zweiten Weltkriegs. Die Umstände, die sich daraus ergeben, spielen im Roman eine wesentliche Rolle. Als Mitarbeiter bei Siemens sind seiner Abteilung Zwangsarbeiter zugewiesen. Abends muss er bei der Stadtwache mithelfen. Alles ist typisch deutsch ordentlich organisiert mitten im Chaos. Es ist bedrückend und intensiv, wenn Wense durch das zerbombte Kassel wandert.
Es wird still im Frühnebel. Still die ersten Brandflecken am Boden, still das erste ausgebrannte Haus, die erste ausgebrannte Reihe von Häusern, die zerbombten Henschelbüros. Scherben knirschen unter seinen Schuhen. Nirgends ein Mensch, nicht mal ein Mäuschen. (S. 26)
Obwohl es der Begriff „Universaldilettant“ aus dem Klappentext durchaus andeutet, macht sich Christian Schulteisz zu keiner Zeit lustig über seinen Helden. Kurios und absurd ist eher das, was um ihn herum geschieht. Wie versucht wird, alles am Laufen zu halten, obwohl Zerstörung und Tod ständig gegenwärtig sind. Wie sich seine Mutter um ihren Dackel sorgt, gleichzeitig aber jederzeit mit einer Todesnachricht von Verwandten oder Freunden rechnen muss. Das transportiert der Autor sehr subtil, mal mit trockenem Humor, mal mit feiner Ironie. Das präsentiert mir der Roman allerdings nicht auf dem Serviertablett. Eine dramaturgische Handlung habe ich nicht erkannt. Es sind Erzählfragmente, die sich bei mir zu einem Gesamtbild formen. Und das mit einer trefflichen Sprache mit teils einfallsreichen Formulierungen. Das versetzt mich in eine ähnliche Position wie Wense selbst: ein staunender Beobachter. Das macht den kurzen Roman sehr gehaltvoll.
© Rezension: 2020, Marcus Kufner

“Wense” von Christian Schulteisz

Roman
Berenberg | ISBN: 978-3-946334-67-5
25.02.2020
Halbleinen fadengeheftet
128
www.berenberg-verlag.de
2 comments
interessant, danke…
[…] Eine weitere Besprechung von Schulteisz‘ Debüt gibt es beim Kulturjournal Fräulein Julia und auf der Seite des Bücherkaffee. […]