Michael Robotham | Schweige Still. Cyrus Haven 1

by Wolfgang Brandner
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Michael Robotham - Schweige still - Rezension buecherkaffee.de

Seine Kindheit birgt ein schweres Trauma, sein Leben hat er dem Kampf gegen das Verbrechen gewidmet: Der Psychologe Cyrus Haven berät die Polizei bei der Aufklärung von Gewaltverbrechen. Während er einen brutalen Mordfall untersucht, lernt Cyrus Evie Cormac kennen. Evie, die als Kind aus den Fängen eines Entführers gerettet wurde, ist zu einer hochintelligenten, aber unberechenbaren jungen Frau herangewachsen. Und verfügt über ein untrügliches Gespür dafür, wenn jemand lügt. Als Cyrus‘ Ermittlungen sich zuspitzen, bringt sie damit nicht nur sich selbst in tödliche Gefahr … [Text & Cover: © Goldmann Verlag]

Michael Robotham ist in erster Linie für seine Thriller-Serie um den Psychologen Joe O’Loughlin und seinen bodenständigen Partner, den Polizisten Vincent Ruiz bekannt. In einer Partnerschaft, wie sie Krimifreunden älteren Semesters im deutschen Sprachraum aus der Freitagabend-Reihe “Ein Fall für zwei” bekannt sein dürfte, ergänzen die beiden einander ideal. Der zerbrechlich wirkende O’Loughlin kriecht seinen Gesprächspartnern mit geschickten Fragen und Schlussfolgerungen in den Kopf, um dort aufzustöbern, was versteckt werden soll. Ruiz hingegen versteht sich auf Recherchen vor Ort, spricht die Sprache der Straßen und der Bars und muss dann zur Rettung ausrücken, wenn ein Verdächtiger O’Loughlins Fragen nicht mehr nur mit Worten beantwortet. In den letzten Bänden legt der Autor sein Augenmerk allerdings mehr auf die Figuren, denn auf die zu lösenden Fälle. Immer weiter dringt der Schrecken in Joes unmittelbares Umfeld vor, sodass das Etikett “persönlichster Fall” schon inflationär gebraucht wird. Nun, da Robothams Leser sich mit O’Loughlin über die kleinen Triumphe gefreut und mit ihm familiäre Katastrophen durchlitten haben, dürfte er inzwischen erschöpfend erzählt sein.

Mit “Schweige Still” (“Good Girl, Bad Girl”, so der Originaltitel) beginnt Robotham nun eine neue Reihe – abermals mit einem Psychologen als Hauptfigur. Dr Cyrus Haven wird als Experte für die Motive menschlichen Handelns immer wieder von der Polizei zu Rate gezogen. Als sein Kontakt zur Staatsgewalt fungiert die Polizistin Lenny Parvel, zu der Cyrus im Kindesalter tiefes Vertrauen gefasst hat. Wie in Robothams bekannterer Serie ist Lenny die pramagtischere von beiden Figuren, wie dort leidet der Psychologe unter einem wesentlichen (gesundheitlichen) Makel.

Trotz seiner offensichtlichen Lieblingspersonenkonstellation legt der Autor allerdings auch Wert darauf, die Unterschiede zwischen dem Duo O’Loughlin – Ruiz und Haven – Parvel deutlich herauszuarbeiten. Cyrus Haven ist Mitte 30, läuft regelmäßig seine Runden und trainiert mit Gewichten. Als Kind musste er die Ermordung seiner Familie mitverfolgen, was sich unauslöschlich in seine Seele gebrannt und seine Persönlichkeit geformt hat. O’Loughlin hingegen ist nahezu am Ende seinen beruflichen Weges, mittlerweile verwitwet und Vater zweier Töchter. Abgesehen von den Schicksallschlägen, die er im Verlauf der Reihe erdulden musste, ist er an Parkinson erkrankt. Wenn Cyrus zu Beginn des Romans vor sich hin sinniert, klingt er noch nach dem vom Schmerz der Jahre gezeichneten O’Loughlin:

Das Herz von Menschen, die ihre Kinder verlieren, wird aufs Merkwürdigste verbogen. Ein Kind zu verlieren, widersetzt sich der Biologie. (…) Es führt den gesunden Menschenverstand in die Irre. Es verletzt die Zeit. Es schafft ein großes, schwarzes, bodenloses Loch, das die Hoffnung schluckt. (S. 51)

Lenny Parvel ist jene Polizistin, die den jungen Cyrus als Zeuge des Kapitalverbrechens gefunden und betreut hat. Mittlerweile steht sie kurz vor der Pensionierung und tritt im Verlauf der Handlung immer weiter in den Hintergrund. Stattdessen stellt der Autor seinem Psychologen eine weitaus interessantere Figur an die Seite: Evie McCormack.

Sie ist hübsch mit einem Schmollmund; sie könnte achtzehn oder vierzehn sein. Noch nicht ganz Frau, aber auch kein Mädchen, das sich von ihrer Kindheit verabschiedet, stattdessen hat sie etwas Altersloses und Unveränderliches, als hätte sie das Schlimmste schon gesehen und überlebt. (S. 9)

Der tatsächliche Name der jungen Frau ist unbekannt. Sechs Jahre vor der erzählten Gegenwart wurde sie ausgehungert und schwer traumatisiert in einer Londoner Wohnung aufgefunden. Offensichtlich musste sie aus einem Versteck mit ansehen, wie ein Mann zu Tode gefoltert wurde und lebte monatelang neben der Leiche. Von den Boulevardmedien wurde sie “Angel Face” genannt, in der Einrichtung für Jugendliche, in der sie zu Beginn des Romans untergebracht ist, trägt sie den Namen Evie McCormack. Evie hat eine besondere Gabe: Sie ist ein Truth Wizard, sie kann mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit feststellen, ob ihr Gegenüber die Wahrheit sagt. Laut Wikipedia sind diese Truth Wizards in der Lage, Mikroexpressionen zu deuten. Von 20.000 untersuchten Personen wurden etwas über 50 als solche identifiziert.

Ich bin glücklich dort, wo ich bin. Ich habe mich aus halb zerbrochenen Teilen zusammengesetzt. Ich habe gelernt, wie man sich versteckt, wie man flieht und wie man sich schützt (…). (S. 61)

Wenn Evie sich selbst charakterisiert, ist das ausgesprochen reflektiert. Sie ist selbstbewusst, extrem intelligent – und in ihrer sozialen Entwicklung seit dem Trauma ihrer frühen Jugend blockiert. Ihre rasche Auffassungsgabe kombiniert mit der Fähigkeit, Lügen zu erkennen, verunsichert ihre Umgebung. Evie richtet einen Flutlichtscheinwerfer in die dunklen Winkel der Seelen anderer Menschen. Ihr Blick durchdringt jede mühsam aus Halbwahrheiten und Schutzbehauptungen errichtetet Fassade. Sie genießt es, ihre Position der Unterlegenheit – erst als minderjährige Zeugin eines Verbrechens, nun im Mahlwerk der Jugendfürsorge – umzukehren und Macht über jene zu erlangen, die über ihr Leben entscheiden.

Als es Evie nicht mehr reicht, nur zu verunsichern und sie ihr Talent überaus gewinnbringend beim Pokerspiel einsetzt, muss sie rasch feststellen, wie hoch die Bereitschaft mancher ist, von der rhetorischen auf eine andere Ebene der Konfliktbewältigung zu wechseln. Vielleicht aus einem unterdrückten Bedürfnis nach sozialem Kontakt, vielleicht durch den geteilten Schrecken in der Kindheit, fühlt sich Evie nun mit Cyrus Haven verbunden. Das gegenseitige verbale Klingenkreuzen zu Beginn des Romans birgt eine eigene Intensität. Cyrus kontert Evies Fähigkeit mit entwaffnender Ehrlichkeit, ihre Provokationen mit Sachlichkeit.

Die Idee des Autors dürfte es wohl gewesen sein, einen Psychologen und eine emotional nicht gefestigte menschliche Lügendetektorin als neues originelles Team zur Überführung von Verbrechern zu etablieren. Seine Figur Evie scheint von dieser Idee nicht gänzlich überzeugt sein und verselbständigt sich. Sie erzwingt sich ihren eigenen Weg in der für sie ungewohnten Freiheit, ergreift die erzählerische Initiative und stellt den Lesern immer wieder ihre ganz eigene Gretchenfrage: Wie hältst Du es mit der Wahrheit? Wie würden wir reagieren, wenn jede Lüge als solche erkannt und aufgedeckt würde? Viele Lügen werden nicht in bösartiger Täuschungsabsicht ausgesprochen. Lügen sind ein schützender Mantel, mit wir uns gegen die Umwelt abschirmen. Zuweilen ist dieser Mantel ein leichtes Frühlingsgewand, zuweilen muss er scharfem Gegenwind standhalten. Lügen erfüllen eine soziale Funktion, sie kitten Risse, verbergen schmerzhafte Wahrheiten, fungieren als Schmiermittel, lassen im Bedarfsfall das Gesicht wahren. Was, wenn nun dieser Schutz radikal fortgerissen wird? Was, wenn es Menschen gäbe, die uns die Entscheidung über die rhetorische Garderobe ungefragt abnehmen, die uns unsere Verletzlichkeit bewusst machen?

Alle lügen. Anwälte. Sozialarbeiter. Therapeuten. Ärzte. Pflegeeltern. Teenager. Kinder. So etwas machen Menschen einfach: Sie atmen, sie essen, sie trinken und sie lügen. (S. 278)

Neben diesen weitreichenden Überlegungen und den bemerkenswerten Figuren muss der Autor immer wieder die eigentliche Rahmenhandlung zurück in die Aufmerksamkeit holen. Eine junge, ambitionierte Eiskunstläuferin wurde ermordet. In der Rekonstruktion ihrer letzten Stunden stoßen Cyrus und die polizeilichen Ermittler auf ein dichtes Geflecht familiärer und freundschaftlicher Beziehungen, in dem irgendwo das Mordmotiv versteckt sein muss. Durch zahllose Seitenstränge wirkt diese Handlung unnötig verkompliziert … wo es doch nur ihre Aufgabe ist, einen Hintergrund für die weitaus interessantere Geschichte von Evie und Cyrus zu bilden.

Kleiner Spoiler am Ende: Eine Verbindung zwischen Joe O’Loughlin und Cyrus Haven wird auf der letzten Seite enthüllt.

Persönliches Fazit

Mit zwei bemerkenswerten Hauptfiguren setzt Michael Robotham den Auftakt zu einer neuen Thrillerserie. Wenn auch der Rahmen vertraut erscheint, dürfen wir gespannt sein, wie der Autor diese beiden Figuren von seinem letzen erfolgreichen Duo emanzipiert.

© Rezension: 2020, Wolfgang Brandner

Schweige Still Book Cover Schweige Still
Cyrus Haven 1
Michael Robotham | Aus dem Englischen von Kristian Lutze
Thriller
Goldmann Verlag | ISBN: 978-3-442-31505-5
2019
Paperback, Klappbroschur, 512 Seiten
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[ Mikka liest das Leben ] [ Rezension ] Michael Robotham: Schweige still 26. März 2021 - 20:07

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