Die Geschichte Singapurs und Malaysias ist eher selten Unterrichtsstoff in unseren Schulen. Dementsprechend gering war mein Wissen darüber, bevor ich Jeremy Tiangs Roman zur Hand genommen habe. Umso gespannter war ich darauf, mehr aus dieser fernen Ecke zu erfahren, und wie der in Singapur geborene Autor das umgesetzt hat.
Der Roman ist in sechs größere Kapitel unterteilt, die jeweils eine Person in den Mittelpunkt stellen. Das ermöglicht ganz verschiedene Sichtweisen auf die Vorgänge im Land. Politisch ist da viel in Bewegung. Man erwartet bald den Abzug der britischen Kolonialmacht und versucht, eine pro-westliche Regierung zu stabilisieren. Der Kommunismus wird als eine Bedrohung angesehen. Das kennen wir ja durchaus aus unserer Vergangenheit, als es den Eisernen Vorhangs noch gab. Die Angst vor dem Einfluss des großen Nachbars China ist spürbar. Mit der Verhängung des Ausnahmezustands werden weitreichend Bürgerrechte ausgehoben, vor allem die chinesischen Bevölkerungsteile werden intensiv beobachtet.
Einsatz für Menschenrechte
Das bekommt die junge Siew Li am eigenen Leib zu spüren. Als sie sich für mehr Gleichberechtigung und Gerechtigkeit einsetzt, landet sie für eine Weile im Gefängnis. Als ihr später wegen ihres politischen Engagements wieder Haft droht, verlässt sie ihren Mann und ihre kleinen Kinder und taucht im Dschungel unter.
Das ist nur eine Übergangsphase, sagte sie sich, bald wird sich die Welt der Gerechtigkeit beugen und dann ist es undenkbar, dass man Menschen einzig wegen ihrer Überzeugung einsperrt. (S. 76)
Vieles, was man heute als Verbrechen bezeichnen würde, konnten die Machthaber als Notwendigkeit zum Schutz des Staates rechtfertigen. In den 1980er Jahren macht sich die englische Journalistin Revathi auf, um aufkommenden Gerüchten nachzugehen, dass es in einem Dorf ein Massaker gegeben haben soll. Vor Ort erfährt sie zu ihrem Erstaunen, dass die Ma Gong-Rebellen noch immer aktiv seien. Kann sie so viele Jahre nach den Vorgängen, die sie recherchiert, für Gerechtigkeit sorgen?
Ein Plädoyer für Freiheit
Jeremy Tiang öffnet uns verschiedene Zeitfenster von den 1950ern bis heute. Das verschafft mir einen guten Überblick über die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse dort. Vor allem aber die Protagonisten bringen mir das nahe, was das für den Einzelnen bedeutet hat. Allerdings hat es eine ganze Weile gedauert, bis sich bei mir Empathie für sie entwickelt hat. Das liegt zum einen daran, dass Tiang in der dritten Person über sie berichtet, was eine gewisse Distanz schafft. Zum anderen sind alle seine Charaktere eher analytische Menschen, die ihre Situation ziemlich nüchtern betrachten. Das ist mir allerdings viel lieber, als wenn sie mit übertrieben großen Emotionen mit ihrem Schicksal hadern würden. So kann ich selber die Bedeutung des Geschehens für die Beteiligten einordnen, und der Roman hallt auch viel länger bei mir nach. Er ist ein gelungenes Plädoyer für Freiheit und für den Mut, andere Meinungen auszuhalten.
© Rezension: 2020, Marcus Kufner
Roman
Residenz | ISBN: 978-3-7017-1728-6
10.03.2020
Gebunden
304
www.residenzverlag.com