Jessie Greengrass | Was wir voneinander wissen

by Marcus Kufner
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“Was wir voneinander wissen” von Jessie Greengrass

Eine junge Frau steht vor einer lebensverändernden Entscheidung und stellt sich deshalb die Frage, wie man eigentlich Erkenntnisse gewinnt, um folgenschwere Fehler zu vermeiden. Sie überdenkt ihre eigene Situation und die ihrer Mutter und Großmutter, betrachtet aber auch die Erfolge berühmter Wissenschaftler, um so zu verstehen, was das Leben eigentlich ausmacht und wie man voneinander lernen kann. [© Text und Cover: Verlag Kiepenheuer & Witsch]

 

Möchte ich ein Kind? Das ist die schlichte aber folgenreiche Frage, die sich die Ich-Erzählerin in diesem Roman stellt und zu deren Beantwortung sie sich einfach nicht durchringen kann. Es geht um das Mutterwerden und -sein, aber auch um die Beziehungen zu ihrer Mutter und Großmutter. Klingt nicht spannend? Das ist ein Irrtum, denn die Gedanken, die Jessie Greengrass ihrer Protagonistin eingibt, sind von großer Tiefe und sehr fesselnd.

Wie die Entscheidung bezüglich des Kinderkriegens ausging, erfahren wir gleich zu Beginn: da beobachtet die Erzählerin, bereits zum zweiten Mal schwanger, ihr Töchterchen beim Spielen mit ihrem Partner Johannes. Aus dieser Jetztzeit springt sie in verschiedene Ebenen zurück, beispielsweise in die Zeit, in der sie sich so unschlüssig mit dem Kinderwunsch auseinandersetzt.

Manchmal erschien es mir als zutiefst selbstsüchtig, ein Kind zu bekommen, um so zur Mutter zu werden; doch als genauso selbstsüchtig empfand ich es, ein Kind zu bekommen und ich selbst zu bleiben oder gar keins zu bekommen – doch womöglich bestand die einzig ehrliche Option darin, zu versuchen, fürsorglicher zu werden, ohne einen anderen Menschen darin zu involvieren. (S. 185)

Naturgemäß kann ich nicht aus persönlicher Erfahrung die Ansichten der Autorin über die Mutterschaft nachvollziehen. Um so beachtlicher ist es, dass es mich dennoch sehr interessiert, was sie darüber schreibt. Das liegt zum Großteil daran, dass sie die Ängste, Zweifel und Hoffnungen ihrer Hauptdarstellerin auf eine sehr intelligente Weise vermittelt.

Intensiv und ehrlich

Als einzige Tochter übernimmt die Erzählerin die Pflege ihrer Mutter, als es krankheitsbedingt nötig ist. Diese Abschnitte sind sehr intensiv. Mich beeindruckt es, wenn jemand es wie Jessie Greengrass hier schafft, ganz ohne Pathos über das Sterben zu schreiben. Und das auf eine ehrliche Weise: Wie ungern die junge Frau ihre persönlichen Bedürfnisse herunterschraubt, welche Distanz sich trotz körperlicher Nähe auftut und wie stark dann trotzdem die Trauer ist. Das macht den Text ungemein glaubwürdig und fesselt mich sehr.

Dann, am Abend, nach den Terminen im Krankenhaus und Stunden an Infusionsschläuchen, nachdem riesige Berge Wäsche gewaschen waren und die beiden Teller in der leeren Küche trockneten, nach den stummen Nachmittagen der langen Zeit zwischen Mittagessen und Abendbrot, angefüllt mit dem besorgten, leeren Einerlei eines Lebens im Endstadium, fuhr ich in umgekehrte Richtung zurück oder, was öfter geschah, wurde durch eine kleinere Krise dort festgehalten, blieb also dort, lag in meinem Bett aus Kindertagen, lauschte den Geräuschen im Garten, wo statt des lärmenden Kreisverkehrs die Füchse bellten und die Käuzchen riefen, und hatte das Gefühl, die Welt würde sich woanders weiterdrehen, während ich hier lag, reglos, gefangen, weggelenkt von der leichten Zukunft, auf die ich meinte, ein Anrecht zu haben. (S. 16)

Auf ihre schreibende Art schaut die Autorin hinter die äußere Fassade und ist neugierig auf die Schichten, die unter der Haut liegen. Das verstärkt sie literarisch, indem sie einige Berühmtheiten auftreten lässt, die den selben Ansatz ganz anders verfolgen: Wilhelm Conrad Röntgen, der mit Strahlung Körper durchleuchtet hat, Sigmund Freud, der mit der Psychoanalyse die Menschen durchschaut hat, oder John Hunter, der Körper sezierte, um hinter ihre Geheimnisse zu kommen; diese Abschnitte fügen sich gut in die Erforschung des Innersten der Erzählerin ein.

 

“Was wir voneinander wissen” von Jessie Greengrass

 

Eine neue Lieblingsautorin

Wenn ich den Roman einer studierten Philosophin in die Hand nehme, gehe ich davon aus, dass sich das im Text niederschlägt. Das tut es hier auch im besten Sinn. Das Buch ist dabei aber keineswegs zu kopflastig oder gar trocken. Jessie Greengrass erreicht eine große Gedankentiefe, ohne dabei auszuufern. Ich konnte diese Gedanken jedenfalls gut nachverfolgen und nachvollziehen. Dass ich ihre Ausführungen mit größtem Interesse gelesen habe, liegt aber nicht zuletzt an ihrem sprachlichen Ausdruck. Es passiert selten, dass mich der in einem Buch sofort so vereinnahmt wie bei diesem Debütroman. Dabei beeindruckt mich nicht nur die Form, sie vermittelt damit auch Inhalt. Das katapultiert Jessie Greengrass sogleich in die Riege meiner Lieblingsautorinnen und -autoren. Ich freue mich jedenfalls schon auf mehr von ihr!

© Rezension: 2020, Marcus Kufner

 

Weitere Stimmen zum Buch:

 

Was wir voneinander wissen Book Cover Was wir voneinander wissen
Jessie Greengrass | Aus dem Englischen von Andrea O‘Brien
Roman
Kiepenheuer & Witsch | ISBN: 978-3-462-05172-8
7.05.2020
Gebunden
224
www.kiwi-verlag.de
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