Der aus Bad Goisern stammende Hubert Achleitner ist in der österreichischen Musikszene kein Unbekannter. Unter dem Pseudonym Hubert von Goisern verband er traditionelle Volks- mit Rockmusik und wurde damit zu einem der Wegbereiter der “Neuen Volksmusik”. Ausgedehnte Reisen in entlegene Teile der Welt weiteten seinen Horizont und prägten seinen musikalischen Stil. Wenn immer es um Hubert von Goisern still wird, ist das lediglich die Ruhe vor dem nächsten kreativen Sturm. Wenn immer er ein neues Album veröffentlicht, wird es sich radikal von seinem letzten unterscheiden.
“flüchtig” ist nun sein Debüt als Schriftsteller. Erste Notizen zum Plot stammen aus 2003, wie Achleitner in einem Interview angibt. “Es gibt diese Traumdeutung, die besagt, dass du im Traum alles bist. Jede Figur, aber auch das Haus, der Himmel, die Erde”, überlegt er, “So sehe ich den Roman auch. Nicht alles darin habe ich erlebt, nicht alles ist mir eingefallen, es gibt auch Geschichten, die hört man und denkt sich: Bist du deppert, das müsste man irgendwo einbauen oder ein Lied darüber schreiben.” Besonders faszinierte ihn der heilige Berg Athos in Griechenland, auf dem kein weibliches Wesen geduldet wird. “Ich wollte auch eine Frau hinbringen, selbst wenn es nur Fiktion ist”, erzählt Achleitner.
Bei jener Frau handelt es sich um die Mittfünfzigerin Maria. Nach dreißig Ehejahren ist die Liebe zwischen ihr und ihrem Gatten Herwig, genannt Wig, erkaltet, beide sind in ihre eigenen Süchte geflüchtet. Nun ergreift Maria tatsächlich die Flucht und bricht mit ihrem alten Volvo aus dem Alltag aus. Nach einer Zwischenstation in einer Hippie-Kommune in den steirischen Bergen landet sie schließlich in Griechenland. In der einfachen, unbeschwerten mediterranen Lebensweise findet sie ihren Frieden. Mit einem alten Fischer erleidet sie schließlich vor der erwähnten Klosterinsel Schiffbruch. Unterdessen begibt sich Herwig auf eine verzweifelte Suche nach seiner Frau und versucht, deren Weg durch Europa nachzuvollziehen.
Abwechselnd erzählt Achleitner aus Marias und Herwigs Perspektive. Beim Lesen durchlebt man das Leben der beiden im Zeitraffer, wie sie einander immer wieder begegnen, wie ihre unterschiedlichen Temperamente zuerst einander ergänzen und sich schließlich wieder entfremden. Der Autor setzt die Figur Lisa als öffnende und schließende Klammer ein. Sie wird von Maria erst als Anhalterin aufgelesen und ihr über die Zeit zur besten Freundin. Ganz am Anfang übermittelt Lisa einen Brief von Maria an Herwig und schlägt gegen Ende nach all den Rückblicken die Brücke in die erzählte Gegenwart.
Die Jahre, ja die Jahrzehnte vergingen zäh und doch wie nichts. Wig hielt an der Schulroutine fest, wie ein im Wasser treibender Schiffbrüchiger sich an eine Holzplanke klammert. (S. 34)
Wig dachte nach, aber sein Hirn war wie eine schnell rotierende Scheibe, und jeder Gedanke, der sich erhob, wurde von der Fliehkraft erfasst und weggeschleudert, bevor er Gestalt annehmen konnte. (S. 92)
Mit 67 Jahren ist der Autor in seinem Metier ein Spätberufener. Dafür schöpft er aus dem Erfahrungsschatz seiner mit zahlreichen Reisen und Begegnungen gefüllten Lebensjahre. Die Sprache ist bildhaft, die Metaphern unaufdringlich. Subtil fügen sie sich in den Text und malen mit leichten Pinselstrichen facettenreiche Gefühle im Kopf der Leser. Achleitner meistert auch den Balanceakt einer erotischen Szene zwischen Vulgärsprache und überzuckertem Vokabular. Stattdessen dosiert er seine Bilder sehr behutsam, nähert sich vorsichtig, respektvoll dem intimen Geschehen. Zumeist verbleibt Achleitner im Rahmen des Fiktiven. Zuweilen übt er aber auch gesellschaftliche oder politische Kritik. Wenn er das tut, richtet er den Blick direkt auf seine Leser, wodurch die Botschaft eindringlich und kompromisslos wird.
Den Namen Hitler auch nur in den Mund zu nehmen schien der fleischlichen Auferstehung des Bösen den Boden zu bereiten. Dabei war es umgekehrt. Erst durch den Konsens des Schweigens konnten seine Epigonen so tun, als wären sie gerade von einem Urlaub zurückgekommen. So konnten sie von neuem beginnen, in der verunftfreien Atmosphäre ihrer nationalen Erde die Dummheit frisch zu züchten. Blutdurchtränkte Erde ist ja besonders fruchtbar. (S. 43-44)
Wenn es so etwas wie einen roten Faden, ein durchgängiges Motiv gibt, dann ist das die Musik. Wie jede Biographie ihren eigenen Soundtrack hat, sind auch die Figuren des Romans ständig von Melodien umgeben. Sie unterstreichen und verstärken alle Gefühlsregungen, umwehen Maria und Herwig in ihren traurigen Momenten und in ihren euphorischen. Die Musik ist akustisch zu vernehmen, steckt aber auch in zahlreichen Details. Herwig ist zu Beginn Musiklehrer an einer Schule. Sein breites Interesse von Mozart über Punk bis zum Jodeln bei den Pygmäen dürfte sich weitgehend mit jenem des Autors decken.
Das Jahrzehnt seiner Selbstfindung waren die Siebziger. Er wuchs auf mit Pink Floyd, Joni Mitchell, Bob Marley, Leonard Cohen, John Lennon, Wolfgang Ambros, Janis Joplin, André Heller, Neil Young, Bob Dylan, Kris Kristofferson, Aretha Franklin, Ravi Shankar, Miles Davis … (S. 44-45)
Maria und Herwig leben zurst im Gleichklang, die Musik kittet die ersten Risse in ihrer Beziehung. Als die Gräben nicht mehr zu überbrücken sind, passen auch ihre Lieder nicht mehr zueinander. Der Autor weiß um die Unzulänglichkeiten der verbalen Sprache. Daher nutzt er die Musik, um das emotionale Spektrum auszuloten, wie er es mit Worten nicht zustandebrächte. In Griechenland macht Maria schließlich die bereichernde Erfahrung, dass Musik Menschen unabhängig von ihrer Sprache miteinander verbindet:
Maria verstand kein Wort von dem, was gesungen wurde, aber es hörte sich an wie ihre eigene Geschichte. Es war eine Klage, aber keine Anklage, kein Jammern, kein Selbstmitleid. Es war eine Feststellung. Die nüchterne Bestandaufnahme nach einer Katastrophe. Es war Blues in Reinkultur. Maria wurde erfasst von den Bildern, die aus den Melodien strömten, und Tränen stiegen in ihr auf. (S. 130)
Ein zweiter Eindruck, den der Roman hinterlässt, ist die Sehnsucht nach einem unkomplizierten Leben. Es ist dieses Gefühl, das aus Hubert von Goiserns Liedern, aber auch jenen von STS klingt. Die meisten Menschen trachten danach, sich materiell abzusichern. Nur den wenigsten ist es gegeben, sich sorgenfrei ganz ihrem Schicksal (oder wie immer man es nennen möchte) anzuvertrauen, und von Tag zu Tag zu leben. Insgeheim mag diese Lebensweise für einige aus der ersten Gruppe als erstrebenswert, als eine Sehnsucht, als ein Traum erscheinen.
In seiner Erzählung gibt Hubert Achleitner dem Traum allen Platz, den er beansprucht. In diesem Roman steckt das Glück sonniger Tage mit den Füßen im Meer, mit Käse, Tomaten und Fladenbrot und salziger Luft und ohne schwere Gedanken. Dieser Roman vergisst aber nie, wie flüchtig – und hier ist der Romantitel – dieses Glück ist … dass es unendlich kostbare Augenblicke sind, in denen dieses Glück steckt. In diesem Roman taucht das Carpe Diem nicht als Kalenderspruch auf, sondern in Gestalt lebenslustiger, grundehrlicher Zeitgenossen, die den Leser bei der Hand nehmen und in ihre Welt ziehen.
Persönliches Fazit
“flüchtig” ist ein sprachlich reifer Erstling, der vom Glück erzählt, einander zu finden, von der Tragödie, wenn dieses Glück im Alltag zermahlen wird, von Fernweh und dem Suchen und in dem viel Musik steckt.
@ 2020, Wolfgang Brandner
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Roman
Zsolnay Verlag | ISBN: 978-3-552-05972-6
2020
Fester Einband, 304 Seiten
hsanser-literaturverlage.de
7 comments
Hallo,
rein von der Handlung her, reduziert auf: ‘Ehe scheitert nach dreißig Jahren, Frau flüchtet mit gemeinsamem Volvo’, klingt “flüchtig” nicht nach einem Buch, das mir normalerweise spontan in den Warenkorb hüpfen würde.
Aber diese Rezension lässt aufhorchen! Ich habe mir das eBook direkt in der Onleihe vormerken lassen – “Voraussichtlich verfügbar ab: 19.12.2020″… (Aber meist geht es doch schneller.)
MfG,
Mikka
Hallo Mikka,
danke für Deinen Kommentar. Das klingt ja beinahe so, als würdest Du Dich von der “Describe a movie as boring as possible”-challenge (https://www.boredpanda.com/people-describe-favorite-movies-as-boring-as-possible/?utm_source=facebook&utm_medium=social&utm_campaign=BPFacebook&fbclid=IwAR3MuPAqa4UTOToqHY1JB5mki-tN7UicggS9h9AyGPeBPvmvK11R_Ub0Dow) inspirieren lassen 🙂
Ja, Du hast wohl recht, die Handlung ist überschaubar. Aber wie so oft ist es die Ausgestaltung, die zählt. Hubert Achleitner ist ein Vollblut- und Allround-Musiker. Insofern könnte man den Roman auch mit einer Oper vergleichen. Auch in dieser Gattung des Musiktheaters ist die (oft hanebüchene) Handlung nur der Aufhänger für wundervolle Musik.
Dennoch, freu’ Dich auf den Roman, ich bin neugierig, wie er Dir gefällt.
Liebe Grüße
Wolfgang
danke hierfür, wird für mich etwas sein…
lg wolfgang
[…] Hubert Achleitner | flüchtig […]
Ich habe “flüchtig” verschlungen wie schon lange kein anderes Buch. Achleitner schreibt darin auf einer Scala von feinsinnig bis nachdenklich und liebevoll bis tragisch. Ich konnte darin eintauchen und wollte am Ende am liebsten noch viel viel länger “drin” bleiben. Herrlich auch wie charmant sich Achleitner mit der griechischen Seele, ebenso wie mit der Orthodoxie abgibt. Ab Heute ist “flüchtig ” mein Lieblingsroman.
Lieber Namenskollege Hubert, zum Glück ist/war deine Musik um vieles besser als dein Buch. Ich fand es ganz schön langweilig und ich musste mich zwingen um es fertig zu lesen. Also Hubert, bleib bei deinen Leisten.
Ich mag die Musik von HvG und war dementsprechend gespannt auf das Buch. Ich habe es als Hörbuch genossen umd war, nachdem ich ein bisschen zum “eingewöhnen” brauchte, fasziniert und gefesselt bis zum Schluss um gleich wieder von vorn zu beginnen. Die Handlung ist zwar spärlich, aber angesichts der vielen interessanten Lebensgeschichten und der wunderbaren Sprache vollkommen ausreichend.
Ein bezauberndes Buch, vielen Dank!