Wie weit würdest du für deinen Bruder gehen?
Worum geht es in dem Roman eigentlich?
Sehr wahrscheinlich stellt man sich diese Frage, nachdem man nach der letzten Seite staunend und noch etwas orientierungslos wieder aus dem Buch hinausgeworfen wird. Tatsächlich ist der Plot von “Ihr Königreich” rasch erzählt: Nach Abschluss eines betriebswirtschaftlichen Studiums kehrt Carl Opgard in sein norwegisches Heimatdorf Os zurück. Dort will er gemeinsam mit seiner aus Barbados stammenden Frau Shannon und seinem älteren Bruder Roy ein Hotel errichten. Roy betreibt in Os eine Tankstelle und sieht es als seine Aufgabe, Carl vor allen Widrigkeiten zu beschützen. Unterdessen nimmt Dorfpolizist Kurt Olsen die Ermittlungen zum Jahre zurückliegenden Unfalltod der Eltern der Brüder wieder auf. Auch der Selbstmord seines eigenen Vaters Sigmund Olsen lässt ihm keine Ruhe …
Draußen an der frischen Luft kam mir alles wie ein verfluchtes Déjà-Vu vor. Es war schon einmal passiert. Und es würde wieder passieren. Mit denselben Folgen. (S. 126)
Und warum ist der Roman so mitreißend?
Die Geschichte wirkt so natürlich, als wäre sie von Jo Nesbø nicht erdacht, sondern bloß dokumentiert. Er scheint lediglich die Figuren ersonnen und in der Ausgangssituation platziert zu haben. Dabei wird die Rahmenhandlung der Gegenwart immer wieder durch Rückblenden unterbrochen. Einmal in Gang gesetzt, verhält sich die Handlung wie eine Lawine, die ihrer eigenen Gravitation folgt und vom Autor nicht mehr beeinflussbar ist. Jedes Ereignis der Vergangenheit, das dem Leser enthüllt wird, ist wie ein markantes Merkmal in der Topographie, das der Erzähllawine eine neue Richtung gibt. Dadurch ist es schwer, vorherzusagen, was sie auf ihrem Weg noch alles mitreißen und wo sie zur Ruhe kommen wird. So prägt etwa der dominante, koservativ-religiöse Vater die Persönlichkeit der beiden Burschen. Roys “Mrs Robinson”-Episode richtet die Aufmerksamkeit auf die auch in der Abgeschiedenheit zu verspürende Macht monetären Reichtums. Der Selbstmord des Dorfpolizisten hat seine eigene Vorgeschichte, und auch der Tod der Eltern gräbt tiefe Spuren in die Biographie der Brüder. Einen makabren Höhepunkt in den Rücklbenden stellt die als “Fritznacht” bezeichnete Episode dar …
In erster Linie lebt der Jo Nesbøs Roman von seinen Figuren.
Carl, der jüngere der beiden Opgard-Brüder, ist extrovertiert, weiß sich mit gönnerhaftem Auftreten zu verkaufen, versteckt unter der weltmännischen Oberfläche aber auch Scham und Hilflosigkeit. Roy, sein älterer Bruder und gleichzeitig Ich-Erzähler, fungiert als Hauptfigur des Romans. Still, in sich gekehrt ist er als Carls genaues Gegenstück konzipiert. Obwohl er an einer Leseschwäche leidet, ist er ausgesprochen scharfsinnig. Sein Beschützerinstinkt gegenüber Carl ist die stärkste Triebfeder des Romans. Die Feinzeichnung der beiden Brüder nimmt der Autor anhand ihrer Vorlieben vor: Roy hört die einfachen, bodenständigen Songs von J.J. Cale. Carl hingegen liest die beiden Romane “The Big Gatsby” und vorzugsweise “An American Tragedy” immer wieder. Letzterer handelt von einem Mord, der durch einen nicht verhinderten Unfall begangen wird.
Shannon, Carls Ehefrau, bleibt aufgrund ihrer karibischen Herkunft ein misstrauisch beäugter Fremdkörper im Dorf. Dieses ist bevölkert von Figuren, die so stereotyp sind, dass man sie in einer abgeschlossenen Gemeinde geradezu erwartet, gleichzeitig aber mit ihren individuellen Eigenschaften und Absichten scharf gezeichnet. Der gönnerhafte Onkel nimmt Roy unter seine Fittiche. Die hübsche Tochter des ehemaligen Bürgermeisters wird von Carl betrogen. Die Friseurin ist ebenso neugierig wie mitteilsam. Der ambitionierte Reporter der lokalen Zeitung will Ungereimtheiten im Rahmen des Hotelprojekts aufdecken. Roys jugendliche Angestellte in der Tankstelle experimentiert mit ihrer Sexualität. Schließlich taucht ein dänischer Geldeintreiber auf, der unmissverständlich auf das Anliegen seines Auftraggebers hinweist.
In erster Linie sind wir loyal zu den Menschen, die uns umgeben, erst dann kommt der Glaube an eine Moral, die sich verändern kann, aber in jedem Fall unserer Gruppe dient. (S. 269)
Der unscheinbare Roy ist der zentrale Angelpunkt des Romans, der Grund, warum die Ereignisse erst zu einer Geschichte verdichtet sind. Roy ist unmittelbar in die beiden zentralen Konflikten involviert. Zum einen ist die Harmonie zwischen Roy, Carl und Shannon erwartungsgemäß trügerisch. Zum anderen verbeißt sich der Polizist Kurt Olsen in zwei Fälle, in denen Roy kalkuliert immer wieder seine eigenen Spuren verwischt. Der Roman könnte genauso gut aus der Sicht des Ermittlers, der an eine Mauer aus Schweigen prallt, erzählt werden. In diesem Fall würde sich “Ihr Königreich” passgenau in die Reihe nordisch-melancholischer Krimis einordnen. Jo Nesbø gelingt es jedoch, eben diesen Ermittler als Antagonisten zu positionieren, dessen Hartnäckigkeit den Opgard’schen Familienfrieden bedroht. Weil Jo Nesbø aus der Ich-Perspektive erzählt, fällt es leicht, Sympathie für die an sich gewalttätige und kaltblütige Hauptfigur zu wecken. Der Drang, seinen Bruder und die Familie zu beschützen, steht für Roy über dem Gesetz. Was dem Roman seine Spannung verleiht, ist die Frage, ob er mit seinen Taten durchkommen wird.
Es gibt keine wahre Liebe zwischen Männern und Frauen, die nicht zu einer Familie gehören, Roy. Dafür braucht es Blut. Dasselbe Blut. Wahre, selstlose Liebe gibt es nur in der Familie. Zwischen Geschwistern und zwischen Eltern und ihren Kindern. (S. 381)
Persönliches Fazit
“Ihr Königreich” von Jo Nesbø ist eine raffiniert konstruierte Familiengeschichte, deren Details ineinandergreifen wie frisch geschmierte Zahnräder.
@ 2020, Wolfgang Brandner
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Ullstein Buchverlage | ISBN: 978-3-550-05074-9
02.09.2020
Hardcover mit Schutzumschlag
585 Seiten
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