«Ich war das Mädchen, das den Nothing Man überlebte. Jetzt bin ich die Frau, die ihn fassen wird.»
Cover: © Rowohlt Verlag
Jim Doyle ist der “Nothing Man”. 20 Jahre vor der Handlung des Romans hat er eine Serie von Gewaltverbrechen begangen. Weil er an den Tatorten zu wenige verwertbare Spuren hinterlassen hat, um von der Polizei erwischt zu werden, wurde ihm der titelgebende Name verpasst. Pikanterweise hat Doyle in der aktiven Zeit des “Nothing Man” selbst als Polizist gearbeitet. Mittlerweile hat eine wenig erfüllende Stelle als Wachmann in einem Supermarkt und entlädt seinen aufgestauten Frust an ertappten Ladendieben.
Jim Doyle ist der Prototyp eines widerwärtigen Zeitgenossen, bei dem es besser ist, die Straßenseite zu wechseln, anstatt ihm zu begegnen. Er ist ein jähzorniger Misanthrop, voller unterdrückter Aggression. Gewalt – notfalls gegen sich selbst gerichtet – ist für ihn der einzige Weg, seine Sucht nach Anerkennung zu befriedigen. Er fügt sich zähneknirschend der Hierarchie und genießt es seinerseits, die Macht, die ihm die Polizeiuniform verleiht, gegen Schwächere auszuüben. Die Autorin illustriert regelmäßig Jims aufbrausendes Wesen, um nur ja keinen Funken von Sympathie aufkommen zu lassen.
Immer wenn er die Straße entlangschritt, die Daumen in seiner Weste untergehakt, während das Gewicht des Gürtels und von allem, was daran hing, auf seine Hüften drückte, fühlte er sich gut. Größer. Stärker. Er merkte, wie Passanten verstohlen zu ihm herübersahen und es sich noch einmal anders überlegten, bevor sie die Straße bei Rot überquerten oder ihr Auto auf dem Behindertenparkplatz abstellten (…). (S. 292)
Ebenso gnadenlos brutal wie Jim sind auch die Verbrechen des Nothing Man. Er dringt nachts in Häuser ein, die er zuvor sorgfältig auskundschaftet hat, überwältigt seine weiblichen Opfer im Schlaf, vergewaltigt und foltert sie. Auch wenn die körperlichen Wunden wieder verheilen, sickert aus ihnen langsam der Lebenswille. Die wahre Grausamkeit des Nothing Man besteht darin, in das Schlafzimmer, den intimsten Ort einzudringen. Er verletzt den Schutzmantel der eigenen vier Wände, pervertiert jedes Gefühl von familiärer Geborgenheit. Christine Kiernan nimmt sich wenige Wochen nach dem Überfall das Leben, Alice O’Sullivans Trauma mündet in eine tödliche Krebserkrankung.
Alice versicherte Familie und Freunden, dass es ihr gut gehe, dass sie es einfach nur vergessen wolle, aber sechs Monate später verbrachte sie noch immer die meisten Nächte hellwach auf dem Sofa und starrte auf das flackernde blaue Licht eines Fernsehbildschirms, ohne wirklich hinzusehen. Türen und Schlösser hatten jegliche Bedeutung verloren. Sie fühlten sich in ihrem eigenen Heim nicht mehr sicher und ebensowenig am Rand einer dunklen, menschenleeren Straße. (S. 89)
Das Bemerkenswerte am Thriller von Catherine Ryan Howard ist das Konzept, das sich bis ins Detail durchzieht. “The Nothing Man” ist nämlich nicht nur der Titel des vorliegenden Romans, sondern auch der Titel jenes Buches, in dem Jim Doyle gebannt blättert. Verfasst ist dieses Buch im Buch von Eve Black, der zweiten Hauptfigur. Als Zwölfjährige hat sie als einzige den Überfall auf ihre Familie überlebt. Vom Titelblatt über die bibliographischen Angaben über die Danksagungen und ein Nachwort der zweiten Auflage ist Eve Blacks “Nothing Man” mit allen Merkmalen eines tatsächlich publizierten Buches ausgestattet.
Selbst ein fiktiver Verlag und eine ebenso erfundene ISBN sind zu finden. Im Erscheinungsbild unterscheiden sich die beiden Texte durch die Schriftarten (mit / ohne Serifen) und die Kopfzeile (ja, auch dieses Detail stimmt). Es wäre durchaus vorstellbar, die beiden Werke – in ihrem Umfang etwas aufgefettet – nebeneinander im Buchhandel zu finden. (Mit seinen Romanen “Das Joshua-Profil” und dem unter Pseudonym veröffentlichten “Die Blutschule” hat Sebastian Fitzek diese Idee tatsächlich umgesetzt.)
Für Catherine Ryan Howard erfüllt das Buch im Buch die Funktion einer Rückblende auf die Serie an Gewaltverbrechen. Würde die Autorin lediglich die Erinnerung von Eve als Verbrechensopfer wiedergeben, würde sie sich einerseits eine unzuverlässige Erzählerin einhandeln und andererseits den Mord an deren Familie in den Mittelpunkt rücken. Indem aber Eve, wild entschlossen, den Nothing Man nach all den Jahren zu stellen, ein eigenständiges Buch schreibt, erzeugt die Autorin die notwendige Distanz. Die Figur Eve muss ihre eigenen Erinnerungen anhand der polizeilichen Protokolle neu bewerten. Sie rechercherchiert die Fälle der übrigen Opfer des Nothing Man und ergründet somit die gesamte Tragweite des inzwischen als Cold Case eingestuften Falles.
Von Beginn an ist zweifellos klar, dass Jim Doyle jene Verbrechen begangen hat, die bis zum Zeitpunkt der Handlung nie aufgeklärt wurden. Dass es schwer fällt, das Buch aus der Hand zu legen, liegt am von Anfang an herrschenden Zustand der Ungewissheit. Wird es Eve Black gelingen, endlich den Täter zu finden? Wie geht Jim mit dem im Zuge der Lektüre wachsenden Druck um? In einer besonders intensiven Szene treffen Eve und Jim bei einer Buchpräsentation im Schutz der Öffentlichkeit aufeinander. Die an Jim nagende Ungewissheit ist beim Lesen nahezu körperlich spürbar. Dass eine entscheidende Wendung schließlich nicht überrascht, beeinträchtigt kaum die Spannung des Romans
Persönliches Fazit
“The Nothing Man” von Catherine Ryan Howard macht durch seine unkonventionelle Form neugierig. Mit einer Zeitbombe als Antagonisten wird die Autorin den Vorschusslorbeeren auf dem Buchrücken gerecht.
© Rezension: 2021, Wolfgang Brandner
Thriller
Rowohlt Verlag | ISBN: 978-3-499-00536-7
2021
Taschenbuch
400 Seiten
www.rowohlt.de
1 comment
Hallo!
Hab mich richtig gefreut, dieses Buch bei euren Rezensionen zu finden. Es war mein erster Thriller in diesem Jahr & blieb mir bis heute in Erinnerung. Welch Erzählperspektive! Das PingPong-Spiel zwischen Täter und Opfer, die Spannung – und dann war da noch die großartige Rede der Professorin vom Fach. Ein Buch, das ich auch Thriller-Neulingen von Herzen empfehle, weil es viel Menschlichkeit mitbringt. Die Autorin hat glaube ich inzwischen auch einen Roman herausgebracht.