Gudrun Lerchbaum | Das giftige Glück

by Wolfgang Brandner
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Etwas Leuchtendes liegt in der Luft. Befällt Pflanzen. Und Menschen. Ist überall.

Gudrun Lerchbaum - Das giftige Glück - Rezension

Gudrun Lerchbaum | Das giftige Glück || Angenommen, der Rausch deines Lebens, die pure Euphorie wächst frei zugänglich im Park um die Ecke. Der einzige Haken dieser Substanz: Du kannst sie nur ein einziges Mal genießen. Denn sie ist hochgiftig und ohne Ausnahme tödlich. Auch wenn der Tod, den sie verspricht, süßer denn je ist. Was würdest du tun? Zugreifen? Oder widerstehen? Als ein bis dahin unbekannter Pilz den Bärlauch rund um Wien befällt, steigt die Zahl der Todesfälle rasant an. Denn wie in jedem Frühling dominiert das Kraut nicht nur die Speisekarten vieler Lokale, sondern auch die Wälder der Stadt, die – aller Verbote zum Trotz – gestürmt werden. Versehentliche Vergiftungen werden bald zu praktischen Beseitigungen von lästigen Langzeitfeind*innen, auch die Partyszene der Stadt entdeckt Viennese Weed für sich. Und die befallene Pflanze bietet eine weitere für viele verlockende Möglichkeit: die Trostlosigkeit des Lebens zu beenden. Selbstbestimmt, friedlich und ohne einer anderen Person Schaden zuzufügen. [Text & Cover: © Haymon Verlag]

Der neue Roman von Gudrun Lerchbaum hält gleich eine gute und eine schlechte Nachricht für jene bereit, die den Vorgängerband “Wo Rauch ist” gelesen haben: Einerseits sind die drei Hauptfiguren, Olga Schattenberg, Christina “Kiki” Bach und Adrian Roth wieder mit von der Partie. Andererseits delektiert sich gerade Adrian noch vor Seite 20 an seiner letzten Mahlzeit und muss damit als prominentes Beispiel für die tödliche Wirkung des spontan veränderten Bärlauchs dienen. Eine letzte Pflicht erfüllt er noch: Er übergibt die Stafette des erzählerischen Fokus’ an seine Nachbarin, die dreizehnjährige Jasmin, genannt Jasse.

Nach ihrer Haftstrafe für einen Mord im Affekt hat Kiki wieder eine erfüllende Aufgabe gefunden, indem sie der an MS erkrankten Olga das alltägliche Leben erleichtert. Als Olga beschließt, in eine Einrichtung für betreutes Wohnen zu übersiedeln, fühlt Kiki sich um diese Aufgabe gebracht. Auch Jasse treibt zunächst ziellos durch ihr Leben. Sie lebt gemeinsam mit ihrem berufstätigen Vater, die Mutter ist untergetaucht. Sie gibt sich aufmüpfig, lässt keine Gelegenheit aus, bei ihren Mitmenschen anzuecken.

Ein zentrales Element des Romans ist die Beziehung zwischen den beiden jungen Frauen.

Sie begegnen einander zufällig beim Bärlauch sammeln. Spontan lädt Kiki die Dreizehnjährige in eine Pizzeria ein. Aus einer Laune garniert Jasse die Pizza einer Bekannten ihrer Gönnerin mit dem gepflückten Bärlauch … der seine tödliche Wirkung prompt entfaltet. Der Vorfall wird als Mord eingestuft, und weil sich im allgemeinen Trubel die Einzelheiten nicht mehr nachvollziehen lassen, ist Kiki mit ihrer kriminellen Vergangenheit für die Polizei die ideale Verdächtige. Obwohl Kiki die wahre Täterin kennt, will sie die Schuld auf sich nehmen und ihrem Leben damit neuen Sinn verleihen. Jasse wiederum bekommt sie es mit ihrem Gewissen zu tun …

Übernehmen wir Verantwortung für unser Handeln?

Ist es moralisch überhaupt vertretbar, die Verantwortung auszulagern? Und wiegt ein Unrecht passiv zuzulassen genauso schwer wie eines aktiv zu begehen? Auf Augenhöhe ihrer Figuren setzt Gudrun Lerchbaum sich mit einer fundamentalen Frage des Zusammenlebens – und der Literaturgeschichte – auseinander. Im Blick aus der Vogelperspektive serviert sie uns ein ähnlich komplexes Gedankenexperiment: Welchen Stellenwert nimmt der Tod in der Gesellschaft ein? Was wäre, wenn ein selbst bestimmter, schmerzfreier Abschied aus dem Leben jederzeit möglich wäre?

‘Keine Ahnung. Gestorben wird hier sowieso. Kommt mir schon ganz normal vor. Als gehörte es zum Leben.’ Sie setzte ihr verwegenes Lächeln auf, war doch die alte Olga, nur glücklicher als in den letzten Monaten. ‘Erstaunlicherweise scheint das Leben umso kostbarer, je näher man dem Ende kommt. Das ist mir hier unter den anderen Todgeweihten erst so richtig aufgegangen. Und wenn es mal nicht mehr so ist – was spricht dagegen, eine Abkürzung zu nehmen?’  (S. 220)

Wenn tatsächlich ein Kraut gewachsen wäre, nicht gegen den Tod an sich, aber gegen sehr viele leidvolle Situationen, würde es unseren Umgang mit dem Sterben nachhaltig und umfassend verändern. Mit diesem Möglichkeitsspiel trifft Gudrun Lerchbaum die knapp unter der öffentlichen Oberfläche schwelende Diskussion um die Sterbehilfe. Von höchst individuellen Situationen bis zu Medizin, Politik, Religion und Volkswirtschaft, ist es kaum möglich, die seismischen Auswirkungen eines solchen Bebens vollständig zu erfassen. Den Umfang der Konsequenzen erahnend, belässt es der Roman bei Andeutungen und erklärt das Gedankenexperiment in der Auflösung vorläufig für beendet. Viennese Weed hingegen bleibt nach der Lektüre als Ausgangspunkt zum Weiterdenken.

Gudrun Lerchbaum spielt mit unterschiedlichen Textsorten

Die zahlreichen Facetten ihres Motivs spiegelt Gudrun Lerchbaum in unterschiedlichen Perspektiven. Während sie die sehr persönliche Geschichte um Kiki, Jasse und (am Rande) Olga aus deren Sicht erzählt, muss sie gleichzeitig den Blick auf das große Ganze wahren. Dazu genießt Lerchbaum in stärkerem Ausmaß als noch in “Wo Rauch ist” das Spiel mit unterschiedlichen Textsorten: Beiträge aus einem privaten Blog namens “Sporenwelt” vermitteln im Plauderton die wissenschaftlichen Hintergründe.

Ein Facebook-Posting zur “Bärlauch-Lüge” wittert eine weitreichende Verschwörung – die einschlägigen Reizwörter aus der Corona-Pandemie sind noch präsent und werden gezielt eingesetzt, um empfängliche Gemüter zu mobilisieren. In einem TV-Interview schlägt ein Politiker vor, den modifizierten Bärlauch als biologischen Kampfstoff zu nutzen. (Sowohl der Fernsehsender, als auch der Politiker sind anhand von Tonfall und Wortwahl 7mit hoher Wahrscheinlichkeit erkennbar.) Der häufige Wechsel zwischen den Textsorten bricht den Roman auf und lässt ihn zu einem aus verschiedenen Komponenten zusammengesetzten Mosaik werden. Und da auch das Leben außerhalb der Seiten selten ohne Schnitt stattfindet, lässt die Form den Text umso authentischer erscheinen.

Persönliches Fazit

“Das giftige Glück” von Gudrun Lerchbaum ist ein interessantes Gedankenspiel um eine komplexe Fragestellung. Der Roman überzeugt mit seinem Reichtum an Facetten und Figuren, die eine Zeit brauchen, ehe sie ihre schützende Unnahbarkeit ablegen.

© Rezension: 2020, Wolfgang Brandner

Das giftige Glück
Gudrun Lerchbaum
Roman
Haymon Verlag | ISBN: 978-3-7099-8149-8
07.01.2022
gebunden
272 Seiten
www.haymonverlag.at
1 comment

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1 comment

Marie 26. August 2022 - 9:52

Hallo Wolfgang,
das Buch war mir vorher unbekannt, aber deine Rezension hat mich sehr neugierig gemacht.
Vielen Dank dafür!
Herzliche Grüße
Marie

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