Serienmörder sind ein beliebtes Motiv für Thriller. Ihre Beweggründe sind oft schwer nachzuvollziehen, und ihre Untaten finden erst ein Ende, wenn sie gestellt werden. Damit grenzen sie zum einen die jeweilige Geschichte zum Whodunnit-Krimi ab, zum anderen sorgen sie für anhaltende Spannung. Ob aus Sicht der unter Druck stehenden Ermittler, der gehetzten Opfer oder der grausamen Täter selbst, die Geschichten scheinen längst aus allen relevanten Perspektiven erzählt. Und doch gelingt es der amerikanischen Autorin Stacy Willingham, sofort die Neugier zu wecken: Ihre Hauptfigur Chloe ist die Tochter eines verurteilten Serientäters, der seit zwanzig Jahren im Gefängnis sitzt. Die Schuld und die daraus resultierende soziale Stigmatigiserung lasten erdrückend schwer auf ihrer Familie.
Chloe Davis hat Breaux Bridge, der Stadt ihrer Kindheit, den Rücken gekehrt und betreibt inzwischen eine eigene Praxis als Psychologin. Sie ist mit Daniel Briggs, einem Vertreter für pharmazeutische Produkte, glücklich verlobt, ihre Hochzeit wird bereits emsig geplant. Inzwischen ist sie eine ausgeglichene Persönlichkeit, von den Schrecken der Vergangenheit hat sie sich erfolgreich distanziert. (Wir ahnen es, natürlich hat sie das nicht, natürlich wirft ein neuerlicher Mord sie aus dem Gleichgewicht, ansonsten wäre die Geschichte nicht halb so spannend.)
Cooper, genannt Coop, ist Chloes Bruder, der fürsorglich über sie wacht und ihre Beziehung zu Daniel mit Argwohn verfolgt. Er strahlt eine Präsenz aus, mit der er seit ihrer gemeinsamen Jugend die Aufmerksamkeit aller auf sich zieht.
Ein Mord an einem Mädchen setzt die Ereignisse der erzählten Gegenwart in Gang. Das Opfer war kurz zuvor bei Chloe in therapeutischer Behandlung, der Modus erinnert auffällig an jene Verbrechen, deren zwanzigster Jahrestag kurz bevorsteht. Ist ein Nachahmungstäter am Werk? Will ein Angehöriger einer damals Getöteten sich nach so langer Zeit rächen? Und hat es durch die offensichtliche Verbindung zu Chloe jemand auf sie selbst abgesehen? Nachdem sie bei der Polizei ihre Glaubwürdigkeit verspielt hat, ist sie entschlossen, gemeinsam mit dem Journalisten Aaron Jensen selbst den Fall ein für allemal aufzuklären.
Ratsuchend sehe ich Cooper an. Mein Leben lang habe ich das, was ich gesucht habe, immer irgendwo in seinem Gesichtsausdruck gefunden. Im fast unmerklichen Zucken seiner Lippen, wenn er ein Lächeln zu unterdrücken versucht, in dem Grübchen auf seiner Wange, wenn er gedankenverloren auf der Innenseite kaut. Soweit ich mich erinnere, ist mir nur ein einziges Mal ein leerer Blick begegnet. (S.284)
Sehr schnell fällt auf, dass der Roman durchgängig aus der Sicht Chloes erzählt ist. Neben der Ich-Perspektive gibt es keinen Blick von außen. Die Wahrnehmung der Hauptfigur ist beim Lesen also die einzige Perspektive, aus der das Geschehen verfolgt werden kann. Wenn diese Hauptfigur dann auch noch leichtfertig mit verschreibungspflichtigen Medikamenten umgeht und daheim stets eine Flasche Wein in Griffweite ist, sind das Alarmsignale für das Genre: Haben wir es hier mit einer unzuverlässigen Erzählerin zu tun? Könnte ihre Rolle in der Geschichte vielleicht doch eine ganz andere sein, als Stacy Willingham glauben machen will?
Anhand der Hauptfigur streift der Roman außerdem essentielle Fragen wie Identität und Schuld. Macht uns die genetische Prägung zum Mörder? Gibt es ein Schicksal, dem wir nicht entrinnen können? Sind Angehörige eines Verbrechers auch dessen Opfer, weil sie unter seinen Taten zu leiden haben? Oder sind sie gar Mittäter, weil sie seine Taten wahrnehmen und verhindern müssten?
Persönliches Fazit
© Rezension: 2022, Wolfgang Brandner
Rowohlt Verlag | ISBN: 978-3-499-00660-9
2022
Taschenbuch
448 Seiten
www.rowohlt.de
2 comments
Hallo,
einerseits liebe ich unzuverlässige Erzählperspektiven – andererseits habe ich inzwischen schon mehrere “Papa war ein Serienmörder”-Thriller gelesen und da zeichnen sich gewisse Schemata ab. Entweder Papa war gar nicht der Mörder, dann sitzt er im Gefängnis, weil er den wahren Mörder schützt, oder einfach durch juristische Fehlentscheidungen. Und das wird von Sohn/Tochter dann aufgedeckt. Oder er war wirklich der Mörder, dann muss Sohn/Tochter mit ihm zusammenarbeiten, um den Trittbrettfahrer zu schnappen.
Aber das hier klingt interessant, ich glaube, ich lese mal rein!
LG,
Mikka
Hallo Mikka,
vielen Dank für Deinen Kommentar. Jetzt hast Du mich aber auch neugierig gemacht, bisher war mir das Motiv “Papa war ein Serienmörder” neu. Hast Du vielleicht Tips, wo das noch vorkommt?
Zum Rest Deines Kommentars sage ich nichts – lass Dich überraschen 🙂
Liebe Grüße
Wolfgang