Roman Klementovic | Wenn der Nebel schweigt

by Wolfgang Brandner
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Roman Klementovic | Wenn der Nebel schweigt || Jana hat schon lange keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater, dem der Mord an ihrer Mutter nie nachgewiesen werden konnte. Doch als sie die Nachricht erreicht, dass es schlimm um ihn steht, kehrt sie in ihre Heimat zurück und betritt zum ersten Mal seit Jahren wieder ihr Elternhaus. Dabei verschlägt es ihr den Atem. Es stinkt bestialisch. Müllberge türmen sich bis unter die Decke. Ihr Vater ist zu einem Messie geworden. Im ersten Schock darüber versucht Jana, zumindest ein wenig Ordnung zu schaffen. Und macht dabei eine verstörende Entdeckung. [Text & Cover: © Gmeiner Verlag

Das erste, das schon nach wenigen Seiten auffällt, ist das Faible des Autors, spannungsgeladene Momente auszudehnen. Wenn vieles zugleich passiert – und der Auftakt ist bereits actiongeladen – erzählt Roman Klementovic im Zeitlupentempo. Er beschert seiner Hauptfigur ein Kaleidoskop an Wahrnehmungen, als wären ihre Sinne durch den plötzlichen Adrenalinrausch aufs Äußerste geschärft.

Wer Roman Klementovic bereits kennt, weiß, dass bewusst gesetzte Tempowechsel zu seinem stilistischen Repertoire gehören. Seine wiederkehrenden Motive taugen beinahe als Markenzeichen. Oft kehrt eine weibliche Hauptfigur in jenes Dorf zurück, in dem sie aufgewachsen ist und dem sie einst den Rücken gekehrt hat. Jenes Dorf ist üblicherweise ein in sich abgeschlossener Ort mit bornierten Bewohnern, die im Verborgenen jede Bewegung verfolgen.

Oft wird die Handlung von nicht aufgearbeiteten Ereignissen in der Vergangenheit getrieben, deren stückweise Aufklärung von spannungstreibenden Vorausdeutungen und Cliffhangern begleitet wird. Roman Klementovics Romane sind außerdem eigenständig und bauen nicht aufeinander auf, was ihm die Freiheit gibt, jedes Mal seine Figuren neu zu entwickeln.

“Ich hatte eine Frau vor mir, die jeden Lebenswillen verloren zu haben schien. Das war es, was das Tal aus einem machte. Die Arbeitslosigkeit. Die Perspektivlosigkeit. Und der Nebel.” (S. 125)

Im konkreten Fall ereilt die fern ihres Geburtsorts lebende Jana ein Hilferuf, der sie aus ihrem Alltag reißt und sie die Reise zurück antreten lässt. Eine Reise, die Jana nicht nur räumlich in die Kindheit zurückführt, sondern auch ihre mühsam gefestigte Persönlichkeit ins Wanken bringt. Vor etlichen Jahren ist ihre Mutter ermordet worden, ob der Vater tatsächlich der Täter ist, konnte nie eindeutige geklärt werden. Mit der Rückkehr sind auch die Erinnerungen wieder lebendig. Schlagartig füllen der Schmerz des Verlustes und der sozialen Isolierung Janas Innerstes aus und verdrängen all ihre Pläne. Sie muss Gewissheit über das Schicksal ihrer Mutter erlangen, um so etwas wie Frieden mit dem Ort schließen zu können.

Ein Heimatdorf, vor allem, wenn es in einer ländlichen Gegend angesiedelt ist, impliziert das Bild eines Idylls. Es sollte Raum für eine sorglose Kindheit bieten, eine Probebühne für das Welttheater sein. Es sollte einen jungen Menschen mit Abenteuern im Wald und frischer Luft und ohne Schwerverkehr, Streit und der städtischen Rastlosigkeit aufwachsen lassen. Der Ort der Handlung erfüllt die Voraussetzungen: Am Ende eines Tals an einem See gelegen, wäre er eine ideale Tourismusdestination.

Kein Sehnsuchtsort für Ruhesuchende

Einige attraktive Unterkünfte und die Positionierung als entschleunigtes Refugium würden dem Dorf wohl zu einigem Wohlstand, vielleicht sogar zu steigenden Einwohnerzahlen und ebensolchen Grundstückspreisen verhelfen. Bei Klementovic ist das Dorf jedoch kein Sehnsuchtsort für Ruhesuchende, sondern steht für Eingesperrtsein und Ausweglosigkeit. Die Enge des Tals bringt engstirnige Charaktere hervor, deren Horizont kaum bis hinter die Ortstafel reicht. Der immerwährende Nebel schränkt die Sicht noch weiter ein. In einer solchen Trostlosigkeit kann eine Kindheit kaum unbeschwert gedeihen. Unabhängig vom Ort hinterlässt der brutale Mord an einem Elternteil auf einer jungen Seele bleibende Spuren.

Aufgrund dieser tiefsitzenden Verwundung ringt Jana in jedem Moment um ihr seelisches Gleichgewicht. Die plötzliche emotionale Ausnahmesituation, ausgelöst durch ein Übermaß an unerfreulichen Erinnerungen, beeinträchtigt zusätzlich ihre Ausgeglichenheit. Jana handelt impulsiv, scheint zumeist weder einen Plan, noch eine konkrete Vorstellung des Ziels ihrer Handlungen zu haben.

Ihr Vater hat das Haus bis unter das Dach mit nutzlosem Gerümpel vollgeräumt, Jana wird niedergeschlagen, eine ehemalige Schulkollegin ist spurlos verschwunden. Kein Wunder also, dass Jana mit der Situation hoffnungslos überfordert wirkt. Dass sie regelmäßig zur Flasche greift, um das unentwirrbare Durcheinander in sich zu betäuben, ist zumindest nachvollziehbar. Gleichzeitig stellt Janas Alkoholkonsum auch ihre Wahrnehmung in Frage.

Ein Mosaikstein führt zum nächsten.

Und nachdem die Handlung aus ihrer Sicht wiedergegeben wird, darf alles Wissen über das Dorf und seine Bewohner angezweifelt werden. Der Mord an ihrer Mutter, der Hilferuf des Nachbarn, die sich überschlagenden Ereignisse … vielleicht verhält sich alles tatsächlich so, wie wir zu wissen glauben, vielleicht sind auch einzelnen Deutungsnuancen verschoben. In jedem Fall sind die subtil eingestreuten Zweifel an Janas Vertrauenswürdigkeit ein geschicktes Mittel des Autors, die Neugierde zu erhalten.

Es war, als betrachtete ich ein komplexes Puzzle, bei dem gerade so viele Teile fehlten, dass das Gesamtmotiv noch nicht zu erraten war. Aber ich ahnte, dass diese Teile unmittelbar vor mir lagen. Ich musste sie nur noch entdecken und richtig einsetzen.” (S. 262)

Allzu oft möchte man der Hauptfigur von Roman Klementovic beim Lesen zu einem Moment ruhigen Durchatmens, zu etwas diplomatischerem Vorgehen raten, ehe sie sich Hals über Kopf in die nächste Konfrontation stürzt. Doch gerade dieser Wesenszug ist der Schlüssel zur Schnitzeljagd, die den roten Faden des Buches bildet. Janas Impulsivität lockt oft das Gegenüber aus der Reserve und führt sie von einem Mosaikstein zum nächsten, bis sich am Ende das Gesamtbild ergibt. (Cliffhanger und Vorausahnungen nach jedem gefundenen Hinweis mögen durchschaubar sein, erzielen aber die Wirkung, die Spannung stufenweise zu steigern.) Wenn auch Janas Handeln oft nicht nachvollziehbar ist, letztlich benötigt diese Geschichte genau diese Hauptfigur.

Persönliches Fazit

Roman Klementovics Spezialität ist es, ein dörfliches Idyll in eine unter die Haut kriechende Bedrohung zu verwandeln. “Wenn der Nebel schweigt” ist eine spannende Variation dieses Topos mit einer maßgeschneiderten Hauptfigur.

© Rezension: 2023, Wolfgang Brandner

Blogtransparenz: unbezahlte Werbung; kostenloses Rezensionsexemplar vom Verlag – vielen Dank an den Gmeiner Verlag

Wenn der Nebel schweigt
Roman Klementovic
Thriller
Gmeiner Verlag | ISBN: 978-3-8392-0313-2
14 September 2022
Paperback
345 Seiten
www.gmeiner-verlag.de
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