Mit „Schneestill“ hat Anna Stern schon mit ihrem Debütroman nicht nur bei mir für Aufmerksamkeit gesorgt. Dementsprechend neugierig bin ich, wenn etwas Neues von ihr erscheint. Hier in ihrem dritten Roman tauchen Personen auf, die in ihren bisherigen Büchern bereits eine Rolle spielten, unter anderem auch die Hauptdarsteller Ava und Paul. „Wild wie die Wellen des Meeres“ kann man aber problemlos ohne Kenntnis der vorherigen Texte lesen, denn völlig unabhängig davon lernen wir die beiden auf eine sehr intensive Art kennen.
Vor allem Ava hat eine sehr komplexe Persönlichkeit. Sie hat es wohl nicht leicht gehabt, sagen Bekannte und Verwandte über sie. Das weckt natürlich mein Interesse – was genau meinen die damit? Welche Probleme schleppt sie denn mit sich herum? Das erfahren wir durch die besondere Struktur des Romans: er beginnt damit, dass Ava sich auf den Weg nach Schottland begibt, wo sie ein Praktikum absolvieren will. Ist das eine Flucht? Was lässt sie hinter sich zurück? Kapitelweise abwechselnd springen wir von der Gegenwart in die Vergangenheit, und zwar mit jedem Sprung weiter zurück. So entwickelt sich die Geschichte gleichzeitig vorwärts und rückwärts, und das funktioniert tatsächlich ausgezeichnet. Denn je mehr ich über Avas Vergangenheit erfahre, umso mehr verstehe ich ihr Handeln und Denken heute.
Anna Stern erzählt in einem eher nüchternen, eigenwilligen und unkomplizierten Stil. Auf mich wirkten die Stellen am kraftvollsten, an denen sie nur wenige Worte verwendet. Mehr braucht es nicht, um die Dramatik erkennbar und nachfühlbar zu machen. Das hat einen ganz eigenen Sound und verfehlt seine Wirkung nicht.
Er geht durch Straßen, die er nicht kennt, in einer Stadt, die er nicht kennt. Er geht, ohne zu sehen, wohin er geht. Er geht und rempelt im Gehen Passanten an, murmelt Sorry, ohne aufzusehen, und geht weiter. Er überquert Plätze und Straßen und wird beinahe überfahren, weil er nach links schaut statt nach rechts.
Wie kann sie.
Sie kann nicht.
Nicht einfach so. (S. 348)
Die Eindrücke werden von einigen Polaroids und Briefen ergänzt, die die sehr persönliche Sichtweise von Ava auf kunstvolle und authentische Art vermitteln.
Schottland scheint für Ava ein gutes Pflaster zu sein, um ihre Gedanken zu sammeln. Die raue, karge Landschaft, die Tierwelt (Ava ist eine Vogelexpertin), aber auch die Menschen erzeugen auch bei mir als Leser eine besondere Stimmung. Wer selbst schon mal in den Highlands unterwegs war, kann das sicher noch intensiver mitnehmen. Aber auch das Leben von Paul und Ava in Rorschach auf der Schweizer Seite des Bodensees, von dem wir in den Rückblicken immer mehr erfahren, prägt die beiden und ihre Beziehung, die alles andere als gediegen verläuft. Ich finde es angenehm, dass Anna Stern mich dabei nicht mit der Nase auf die großen Fragen des Lebens stößt, mit denen sich Ava und Paul konfrontiert sehen. So kann ich deren Erfahrungen sehr gut für mich selbst gewichten und einordnen.
Persönliches Fazit
Anna Stern hat es auch mit ihrem dritten Roman geschafft: Mit seiner durchdachten Struktur, dem wirkungsvollen Stil und der komplexen Charakterisierung hat mich „Wild wie die Wellen des Meeres“ begeistern können.
© Rezension: 2019, Marcus Kufner
Roman
Salis – ISBN: 978-3-906195-81-0
21.01.2019
Gebunden
420
www.salisverlag.com