Michael Robotham | Fürchte die Schatten

by Wolfgang Brandner
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Wer ist Evie Cormack wirklich? Der zweite Fall für Cyrus Haven

Cover: Michael Robotham | Fürchte die Schatten

Michael Robotham | Fürchte die Schatten || Evie Cormacs Leben ist eine Lüge. Seit man sie aus den Fängen eines angeblichen Entführers rettete, verbirgt sie verzweifelt ihre wahre Identität und Geschichte. Denn wer immer die Wahrheit ahnte, musste sterben. Einer ist dennoch entschlossen, ihr zu helfen: Cyrus Haven, Psychologe, polizeilicher Berater und Evies engster Freund. Als er bei Ermittlungen zum Mord an einem Detective auf Hinweise zu ihrer Vergangenheit stößt, will er endlich Licht ins Dunkel bringen. Was er nicht ahnt ist, dass ausgerechnet er damit Evies Todfeinden einen entscheidenden Hinweis liefert. Und die Jagd auf sie beginnt von neuem …[Text & Cover: © Goldmann Verlag]

Michael Robotham dürfte mit seiner erfolgreichen Reihe um Joe O’Loughlin und Vincent Ruiz inzwischen abgeschlossen haben (oder den beiden Hauptfiguren zumindest eine längere Pause gönnen). Ein Indiz dafür ist die angedeutete Übergabe der Verantwortung von Joe O’Loughlin an Cyrus Haven am Ende des 2019 erschienenen “Schweige Still”. Cyrus ist der Protagonist einer neuen, vielversprechenden Serie. Er gleicht seinem Vorgänger in manchem, unterscheidet sich jedoch in vielem.

Fassen wir noch einmal kurz zusammen:
Cyrus Haven ist forensischer Psychologe, der bedarfsweise von der Polizei konsultiert wird. Seine Eltern und seine Zwillingsschwestern wurden von seinem älteren Bruder brutal ermordet, Cyrus war zum Zeitpunkt des Massakers außer Haus. Inzwischen ist er 31 Jahre alt und teilt mit O’Loughlin sowohl den Beruf, als auch die mit seinem Fachwissen erworbene Selbstsicherheit. Im Gegensatz zu dem an Parkinson erkrankten O’Loughlin ist Haven ein passionierter Läufer und hat im Keller seines geerbten Hauses einen privaten Fitnessraum eingerichtet. Anstelle einer Psychotherapie lässt er seinen Körper tätowieren:

Die Nadel ist mein Ausweg und meine Rettung. Die Nadel verwandelt Kunst in Leiden und Leiden in Kunst und spricht zu niemandem außer mir.” (S. 82)

Evie Cormack ist mittlerweile knapp volljährig. Mit acht Jahren wurde sie verstört in einem versteckten Raum eines alten Hauses aufgefunden, wo sie die brutale Folter eines Mannes unbemerkt miterlebt hat. Sie ist ein “Truth Wizard”, das heißt, sie besitzt die besondere Fähigkeit, sofort zu erkennen, wann ihr Gegenüber lügt. Wohl aufgrund der geteilten Erfahrung eines Kindheitstraumas ist Cyrus der einzige Erwachsene, zu dem sie Vertrauen fasst, alle anderen stößt sie rüde von sich.

Die Vorgeschichte ist noch lange nicht verarbeitet

Nachdem also Cyrus und Evie einander im ersten Teil begegnet sind und gemeinsam einen Mordfall aufgeklärt haben, erwarten wir uns Ähnliches auch für den zweiten Teil. Wir erwarten, dass die beiden sich noch besser aufeinander einspielen, um als Team aus Psychologe und menschlichem Lügendetektor ihre Gegner zu überlisten. Doch Michael Robotham macht uns schnell klar, dass die Vorgeschichte noch lange nicht verarbeitet ist. Zu wenig wissen wir noch über die wahren Umstände der Ermordung von Cyrus’ Familie. Zu wenig erschütternd ist Evies Vergangenheit, um sie unerzählt zu lassen.

Der Mord an einem pensionierten Polizisten, der sich in einen ungelösten Fall verbissen hat, bringt den Stein ins Rollen. Weil dieser Fall lose mit Evie verbunden ist, tauchen plötzlich dubiose Gestalten auf, die hartnäckig nach ihr suchen. Evies Wunden brechen auf, die Erinnerungen vermischen sich mit der Gegenwart. So erfahren wir von einem Mann, den sie nur “Onkel” nennen durfte, der Kinder wie sie an zahlungskräftige Kunden vermittelte, von einem Chauffeur, der für sie zum Ersatzvater wurde und sich für sie opferte. Und schließlich erfahren wir sogar Evies ursprünglichen Namen.

Als ich aufgewachsen bin, kannte ich jeden in dieser Straße, und jeder kannte mich. Die Robinsons wohnten in Nummer achtundzwanzig, die Brennans in Nummer achtzehn, die Flicks gegenüber. Sie waren eine verrückte Familie, etwas verwahrlost, mit insgesamt elf Kindern, die ständig Ärger hatten, weil sie Fensterscheiben zerbrochen, in Läden geklaut, die Schule geschwänzt oder Fahrräder gestohlen hatten. (S. 227)

Michael Robothams Erzählkraft gründet in dem Reichtum an Details, mit denen er seine Figuren ausgestaltet, der Vielzahl an Anekdoten, aus denen er ihre Biographie zusammensetzt. Wenn Cyrus sich an seine Jugend in einem Stadtteil von Nottingham erinnert, blickt der Autor aus dem Buch heraus, fixiert den Leser mit einem Blick als würde er fragen: “Und, wie war es bei dir?” Die Erzählung der Mutter eines Pädophilen, die gegen ihr Drogensucht und für das Sorgerecht kämpft, lässt beim Lesen innehalten. Der gebrochene alte Mann, dessen Enkel entführt und dessen Sohn sich aus Verzweiflung darüber das Leben genommen hat, verursacht Gänsehaut. Robotham erzählt von Menschen, die es tatsächlich geben könnte. Es sind Schicksale, die ein aufmerksamer Zuhörer aufliest, nicht in den Londoner Geschäftsvierteln, sondern auf weniger belebten Straßen, die von verfallenden Häusern gesäumt sind.

Eine zweite Hauptfigur schiebt sich in den Vordergrund

Obwohl die neue Serie von Michael Robotham nach Cyrus Haven benannt ist, schiebt sich Evie als zweite Hauptfigur unauffällig in den Vordergrund. Die einzelnen Kapitel sind abwechselnd aus seiner und ihrer Perspektive in der ersten Person und im Präsens erzählt. Beide sind dem Leser gleich nahe, beide sind stilistisch gleichgestellt. Auch für die Handlung sind beide jeweils auf ihre eigene Weise unbedingt erforderlich, ein vom Duo O’Loughlin/Ruiz ungewohntes Gleichgewicht. Während Evie die Geschichte vorgibt, ist es Cyrus, der diese konsequent vorantreibt. Zwei Hauptfiguren, die unterschiedlich wahrnehmen und bewerten, geben dem Autor die Gelegenheit, einzelne Situationen besonders gründlich zu erkunden. Michael Robotham dosiert dieses Mittel behutsam, etwa in einem intimen Moment, als Evie sich im Dachboden von Cyrus’ Haus versteckt, während dieser ein Stockwerk darunter die Nacht nicht alleine verbringt.

Persönliches Fazit

“Fürchte die Schatten” von Michael Robotham ist noch nicht der Thriller um ein einander ergänzendes Duo, der er sein könnte. Vielleicht soll die Serie diesen (ausgetretenen) Pfad auch gar nicht einschlagen. “Fürchte die Schatten” erzählt, was noch erzählt werden muss, feinfühlig und zugleich fesselnd.

@ 2021, Wolfgang Brandner
Blogtransparenz: unbezahlte und unbeauftragte Werbung,  Presseexemplar

 

Besprechung zur ersten Teil der Cyrus Haven Reihe:

Michael Robotham | Schweige Still. Cyrus Haven 1

 

Fürchte die Schatten
Cyrus Haven Reihe - Teil 2
Michael Robotham | Aus dem Englischen von Kristian Lutze
Thriller
Goldmann Verlag | SBN: 978-3-442-31506-2
2020
Paperback, Klappbroschur
480 Seiten
www.randomhouse.de
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