Murakami #buddyread | Die Ermordung des Commendatore 1 – Eine Idee erscheint

by Alexandra Stiller
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Ein Murakami ist ein Murakami bleibt ein Murakami

Vergangene Woche traf bei einigen schon der neue Roman von Haruki Murakami ein. Murakamifans fiebern schon seit Erscheinen der Vorschau des Dumont Buchverlages dieser Zeit entgegen und gestern ist das Buch auch offiziell im Buchhandel erhältlich.

Vor allem auf Instagram konnte man in letzter Zeit spüren, wie die Spannung steigt, es vibrierte regelrecht. Um sich die Zeit zu verkürzen, wurde viel über die vorherigen Romane Murakamis geredet, diskutiert und in Erinnerungen geschwelgt. Unter dem Hashtag #murakamicountdown – von der wunderbaren Sarah (http://pinkfisch.net) ins Leben gerufen – fanden Gleichgesinnte zueinander und es wurde geschwärmt und gefeiert.

Florian aka @Literarischernerd und ich entschlossen uns kurzerhand zu einem #buddyread – wir wollten das Buch gemeinsam lesen und uns dazu immer wieder austauschen. Gesagt – getan!
Und so startete eine Woche voller Emotionen, Notizen, Skizzen und endloser Chats und heute möchten wir Euch einen kleinen Einblick gewähren, wie sehr uns der aktuelle Murakami beschäftige.  Warum keine klassische Rezension, fragt Ihr Euch? Wir sind zu dem Punkt gekommen, dass dies aktuell unmöglich ist. Man kann einfach nichts rezensieren, dass noch nicht fertig ist.
Um was genau geht es nun eigentlich in diesem neuen Roman? Wir begleiten einen ganz typischen Murakamhelden, den Mann ohne Namen. Der ich-Erzähler ist mit seinen 36 Jahren nicht jung, nicht alt. Er ist ein mittlerweile verheirateter Künstler, der sich aus wirtschaftlichen Gründen der Portraitmalerei verdingt hat. Er hegt keine großen Ambitionen, lässt sich eher treiben, ist zufrieden mit dem, was er hat. Seine Portraits sind hervorragend, aber er entwickelt nichts Eigenes, Einprägsames. Er ist passiv. Sehr passiv sogar, eher schon monoton. Sein Erscheinen ist … ja, man könnte sagen, sein Erschienen ist eher farblos. Erste Gedanken an “Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki” kommen auf.
Seine Frau Yuzu eröffnet ihm nach sechs Ehejahren plötzlich, dass sie sich trennen möchte. Unser Ich-Erzähler nimmt auch das völlig ohne Aufregung hin, packt seine Tasche und geht. Er setzt sich in sein Auto und fährt und fährt und fährt viele Kilometer durch das Land, um zu verstehen. Nach mehreren Wochen und 20000 monoton hinter dem Steuer verbrachten Kilometern kehrt er nach Tokio zurück und fragt seinen Freund Masahiko Amada, ob er nicht eine ruhige Unterkunft für ihn wisse. Dieser schlägt im vor, vorläufig in dem Cottage seines Vaters, dem berühmten Maler Tomahiko Amada, in den Bergen um Odawara zu leben. Dort könne er, völlig ohne Ablenkung, zur Ruhe kommen und sich der Malerei widmen. Der Vater ist aufgrund einer Demenz in ein Sanatorium gezogen und wird wohl nicht mehr in das Cottage zurückkehren. Er nimmt das Angebot gerne an, noch ungeahnt dessen, was ihm in diesem abgeschiedenen Haus alles widerfahren wird…

“Wenn es windig war, waberten die Wolkenfetzen tief an den Hängen der umliegenden Berge entlang wie verirrte Geister aus der Vergangenheit auf der Suche nach verlorenen Erinnerungen.” (S. 11) 

Zurückgezogen in den Bergen verdient er sich seinen nötigen Unterhalt mit Kunstkursen für die Dorfbewohner. Und er versucht, zur Malerei zurückzufinden. Portraits möchte er nicht mehr zeichnen, er möchte sich neu finden, seinen eigenen Stil entdecken. Doch das braucht Zeit.
Er möchte Antworten auf die Fragen finden, wie weit es mit ihm gekommen ist, wo er steht und am dringlichsten: wer er überhaupt ist. Tagelang verbringt er vor der weißen Leinwand.
Eines Tages findet er durch Zufall (oder ist es Schicksal?) ein Gemälde von Tomahiko Amada auf dem sonst leeren Dachboden. Es ist das einzige Gemälde überhaupt im ganzen Haus und wie es scheint, hat dies auch noch keiner vor ihm zu Gesicht bekommen. Es ist ein für den Künstler typisches Nihonga-Gemälde, an die Asuka-Zeit angelehnt, und trägt den Titel: “Die Ermordung des Commendatore”.
Die Welt scheint ab hier aus den Fugen zu geraten. Mit dem Auffinden dieses Bildes gerät etwas ins Rollen, immer schneller, immer größer… “Franz Kafka liebte Abhänge” (Eine der vielen bezeichnenden und äussert gelungenen Kapitelüberschriften, die an dieser Stelle ganz hervorragend passt.)
Mehr können und wollen wir gar nicht zum Inhalt verraten, jedes weitere Wort wäre zuviel vorweggenommen. Ab dem Moment, an dem alles ins Rollen gerät, wirft Murakami einen Handlungsstrang nach dem anderen aus – wie ein loses Fischernetz, dass erst wieder zusammengeknüpft werden muss. Reales vermischt sich gekonnt mit Irrealem, übernatürliche Elemente schleichen sich ein. Ein Hauch von Alice im Wunderland mischt auch mit, in Verbindung mit der verstorbenen Schwester des Ich-Erzählers.

Wir verfolgten diese losen, zum Teil sehr seltsamen und skurril anmutenden Stränge, diskutierten darüber und verwarfen unsere Ideen und Thesen immer wieder aufs Neue. Wir waren gleich zu Beginn wieder von diesem besonderen “Murakamiflow” gefangen.

Wir wurden uns einig, dass die relativ oft ins Spiel gebrachten Sexszenen auch sehr typisch für den Schriftsteller sind, diese aber eher seltsam und verstörend anmuten, ebenso des Ich-Erzählers Drang, über kleine und große Brüste zu sinnieren…

Wir durchforsteten das Netz nach Informationen zur Nihonga-Malerei, zu Mozarts Oper “Don Giovanni”, informierten uns über die Japanische Mythologie (zu der uns eine Kapitelüberschrift “Wahrscheinlich landen wir alle auf dem Mond” brachte) und forschten nach, was es mit der besagten Asuka-Zeit auf sich hat (Übrigens die Zeit der offiziellen Einführung des Buddhismus).
Wir folgten allen, von Murakami hervorragend ausgestreuten Brotkrumen. Fast allen. Denn irgendwann verrannten wir uns in unseren Thesen und zweifelten. Was möchte uns der Autor sagen? Was haben manche Dinge nur zu bedeuten? Als wir das Buch zuschlugen, kam kurzfristig auch ein wenig Frustration zum Vorschein, denn einige Stellen im Buch machten uns doch sehr zu schaffen.
Wir überlegten, woran es liegen könnte und noch während wir uns schrieben kam plötzlich das große BÄMMM! Die Erkenntnis traf wie ein Vorschlaghammer.

„Plötzlich erkannte ich, dass ich mich Menshiki näher fühlte als jemals einem anderen Menschen zuvor. Ich konnte es als ein Gefühl geistiger Verwandtschaft oder sogar Verbundenheit bezeichnen.“ (S. 409)

 
Eine, nein: DIE neue These (die wir Euch natürlich nicht verraten dürfen ;)) war geboren und unter diesem Aspekt sah plötzlich alles ganz anders aus. So vieles wurde plötzlich klar. Der Nebel, der über dem Ganzen waberte wie über dem Tal, lichtete sich hier und da und wir sahen die verstecken Hinweise. Unser Ich-Erzähler scheint plötzlich in einem Spiegelkabinett zu stehen. Vieles ergibt ab dem Moment einen Sinn. Nicht alles, bei Weitem nicht! Sonst bräuchte es keinen weiteren Band. Einiges ist immer noch offen – aber da stecken Ideen dahinter….
Murakamis Geschichte ist wie ein Puzzle eines strahlend blauen Himmels: Du sitzt vor einem Berg gleicher blauer Teile und versuchst sie zu sortieren. Keines scheint zu passen. Doch plötzlich findest du genau dieses eine Teil, an dem so viel hängt, setzt es ein und machst einen großen Fortschritt. Weitere Teile scheinen mühelos zu folgen.

“Man sollte die Augen weit aufmachen und genau hinschauen. Sein Urteil sollte man später fällen.” (S. 402) 

Aber was ist das nun? Ist es ein Thriller? Ist es ein Künstlerroman oder gehört es doch eher zur Phantastik? Es ist von allem etwas! Und das ist wieder eine typische Spezialität des Ausnahmeschriftstellers – er lässt sich einfach nicht in eine Schublade stecken, er vermischt äusserst gekonnt die Genre, verwirrt uns, führt uns auf falsche Wege und jagt uns durch ein Labyrinth der Ereignisse – und sind wir ehrlich: das ist doch auch genau das, was wir so lieben!

Auch in diesem Roman spielt die Musik wieder eine große Rolle, wie so oft bei Murakami. In diesem Fall liegt das Augenmerk stark auf Opern und auf der klassischen Musik, aber unser Held hört natürlich auch hier wieder sehr gerne Jazz. Es blieb einfach nicht aus, eine Playlist anzulegen. Florian und ich machten uns gegenseitig auf die Titel aufmerksam und lauschten nebenbei der Musik. Die Playlist ist bunt gefüllt und reicht von Sheryl Crow, The Modern Jazz Quartett, über Thelonious Monk bis hin zu Mozart, Puccini, Franz Schubert, Richard Strauss und Mendelssohns Oktett.

Natürlich wurde auch dieser Roman wieder von der fabelhaften Ursula Gräfe übersetzt, eine wahrlich bewundernswerte Übersetzerin! Bei der ersten LitBlog Convention in Köln durfte ich einer Session beiwohnen, in der sie über Ihre Murakami-Übersetzungen sprach. Wie man sich so sehr in einen Schriftsteller hineinversetzen kann, um seinen Stil, seine Gedanken und Emotionen in der Übersetzung aufgreifen zu können, wobei Japanisch auch sicher alles andere als leicht zu übersetzen ist. Einfach immer wieder faszinierend! Auf dem Blog Masuko13 könnt Ihr ein sehr interessantes Interview mit der Übersetzerin Ursula Gräfe und der Dumont Vertriebsleiterin Imke Schuster lesen.

 

Viele Notizen liegen hier und der Chatverlauf zum #buddyread platzte gefühlt aus allen Nähten – Murakami, du hast uns gefordert! Beinahe wären wir deinen Irrwegen auf den Leim gegangen, stellenweise verzweifelten wir. Aber letztlich bleibt uns wieder einmal nur zu sagen: “Chapeau, Herr Murakami!” 

“Metapher bleibt Metapher, Verschlüsselung bleibt Verschlüsselung, und ein Sieb bleibt ein Sieb” (S. 425) 

Jetzt heisst es: warten bis zum 16. April, bis endlich der zweite Teil “Eine Metapher wandelt sich” erscheinen wird. Das ist eine Frage, die uns allerdings bis zuletzt beschäftigte: Warum zwei Bände? Kann man uns Lesern keine dicken Bücher mehr zutrauen? Florian hat nachgeprüft und festgestellt, dass auch im Japanischen Original zwei Bände erschienen sind. Warum dieser Cut???

“Der Strudel, der mich umwirbelte, wurde immer reißender. Und ich konnte mich ihm nicht mehr entziehen. Es war bereits zu spät. Und dieser Strudel war völlig lautlos. Seine außergewöhnliche Stille machte mir Angst.”

© Text: 2018, Alexandra Stiller & Florian Valerius
Last but not least: Der 28. Januar wird auf Twitter ganz im Zeichen von Haruki Murakami stehen: unter dem Hashtag #MurakamiLesen wird dort gemeinsam »Die Ermordung des Commendatore – Band 1« gelesen, diskutiert, … und der Dumont Buchverlag, der auch Initiator der Veranstaltung ist, hat auch einige Fragen, Aufgaben sowie weitere Überraschungen für euch in petto. Stay tuned!

Die Emordung des Commendatore 1 – Eine Idee erscheint | Haruki Murakami | Dumont Buchverlag
Aus dem Japanischen übersetzt von Ursula Gräfe | Originaltitel: Kishidanchō goroshi
gebunden  | 480 Seiten | ISBN 978-3-8321-9891-6 | 1. Auflage mit Farbschnitt
Ihr könnt das Buch auch bei Florian bestellen: Online-Shop Buchhandlung Stephanus

 

6 comments

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6 comments

Fantasie und Traeumerei 23. Januar 2018 - 5:48

Sehr toller Beitrag, den ich mit Spannung gelesen habe.
Ich habe meinen ersten Murakami noch vor mir, fühle mich nun aber irgendwie infiziert von eurem Schwärmen, von Sarahs tollen Beiträgen und habe das Gefühl dank euch dem Autor zum ersten Mal so richtig begegnet zu sein.

Liebe Grüße,
Nanni

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SarahV 23. Januar 2018 - 7:56

Danke für diese tolle Buchbesprechung und den Einblick in euren #buddyread! Ich habe bisher noch keinen Murakami gelesen… Langsam habe ich aber das Gefühl, dass ich dies unbedingt tun sollte!

Reply
Alexandra vom Bücherkaffee 23. Januar 2018 - 18:27

Liebe Nanni,

vielen lieben Dank, das freut uns sehr! Das ist ganz, ganz toll! Hast Du schon ein Buch des Autors? Ich würde evtl. mit “Naokos Lächeln” oder “Südlich der Grenze, westlich der Sonne” starten. Wenn du beginnst, lass es mich wissen, ich bin sooooo gespannt, ob und wie dir dein erster Murakami gefällt! <3

Ganz liebe Grüße,
Alexandra

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Alexandra vom Bücherkaffee 23. Januar 2018 - 18:31

Liebe Sarah,
das freut uns sehr, dass dir der Einblick gefallen hat und du auch Lust auf einen Murakami bekommst! <3
Ich würde dir evtl. gerne “Naokos Lächeln”, “Kafka am Strand” oder “Südlich der Grenze, westlich der Sonne” empfehlen.
Lass es uns wissen, wie es dir gefallen hat, wenn du deinen ersten Murakami gelesen hast! 🙂

Liebe Grüße, Alexandra

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Alexandra vom Bücherkaffee 23. Januar 2018 - 18:31

Liebe Nanni,

noch eine Ergänzung: “Kafka am Strand” wäre auch eine super Empfehlung zum Einstieg 🙂 <3

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Fantasie und Traeumerei 17. Februar 2018 - 16:42

Liebe Alex,
vielen Dank für deine Tipps. Dann muss ich wohl doch erst shoppen gehen, denn in meinem Regal steht nur “Gefährliche Geliebte” 😀
Liebe Grüße,
Nanni

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