Rezension: Engelsgleich | Martin Krist

by Wolfgang Brandner
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Engelsgleich - Martin Krist
ENGELSGLEICH | In Berlin wird Hauptkommissar Paul Kalkbrenner zu einem Tatort gerufen. Auf einem Fabrikgelände wurde der verstümmelte Leichnam einer jungen Frau entdeckt. Unweit davon befinden sich stinkende Kloakebecken. Fassungslos müssen Kalkbrenner und seine Kollegin Sera Muth zusehen, wie eine Leiche nach der anderen aus den Gruben geholt wird. Ist unter ihnen auch die verschwundene Merle, die von ihrer Pflegemutter Juliane Kluge verzweifelt gesucht wird. Unterdessen vertickt Markus Kühn Drogen an der deutsch-tschechischen Grenze. Er hat die Schnauze voll von den kleinen Geschäften. Er möchte nicht länger Laufbursche sein, sondern ganz oben mitmischen. Er kennt keinerlei Skrupel. Doch schon bald werden ihm Zweifel kommen … [Text & Cover: © Ullstein]

In ENGELSGLEICH werden wieder unterschiedliche Persönlichkeiten durch Berlin gehetzt, einige auf der Suche nach dem schnellen Geld, einige auf der Suche nach Antworten. Die deutsche Hauptstadt ist ein lebendiger Organismus. Sie ist eine Kulisse, deren Persönlichkeit so ausgeprägt ist, dass sie beinahe wie eine eigenständige Figur scheint, die die eigentlichen Protagonisten durch die Handlung führt, zuweilen schützend umarmt, zuweilen zornig in den Regen stößt, zuweilen gelangweilt mit einer Zigarette im Mundwinkel das Geschehen beobachtet. “Wenn sich niemand verantwortlich fühlt, kümmert sich keiner” (S. 109), heißt es etwa.

Szenen und Schauplätze wechseln rasch, zunächst ohne Zusammenhang schälen sich die einzelnen Handlungsstränge aus dem Straßenstaub. Was man sofort erkennen muss, ist der eigene Platz in der Hackordnung zwischen jenen, denen man nicht widerspricht, und jenen, deren Leben immer nur so viel wert ist wie die Ware, die sie gerade transportieren.

Auch ohne Kommissar Paul Kalkbrenner – in seinem mittlerweile vierten Fall – und seine Kollegin Sera Muth wäre die Handschrift von Martin Krist in ENGELSGLEICH deutlich erkennbar.

Besondere Aufmerksamkeit lenkt der Autor auf das Schicksal der verschwundenen Merle. Selbst als die Teenagerin von der Polizei als widerspenstige Ausreißerin eingeordnet und diese Erklärung von Merles engstem Umfeld übernommen wird, weigert sich ihre Pflegemutter Julia, den inneren Abschied zu vollziehen. Sie opfert der obsessiven Suche erst ihr Privatleben, dann ihren Beruf und letztendlich ihre Beziehung. Auch wenn dieser Part die übergeordnete Handlung kaum entscheidend beeinflusst, ist er doch der emotional intensivste und verleiht dem Roman eine zusätzliche Qualität. Julias Sorge, der sie alles andere unterordnet, führt geradewegs in den persönlichen Abgrund. Ihrem Gewissen folgend, kann sie gar nicht anders, als diesem Weg konsequent zu folgen.

Neben der Aufklärung der Geschehnisse um die Leichenfunde, durch die der Leser in bewährter Weise von Komissar Kalkbrenner geführt wird, gilt ein weiterer Handlungsstrang dem geheimnisvollen Markus, der auf einer Gratwanderung entlang der dünnen Linie des Gesetzes immer wieder um sein Gleichgewicht kämpft. Obwohl er als Drogenkurier entschlossen scheint, die kriminelle Karriereleiter zu erklimmen und mit den Fäusten argumentiert, wo die verbalen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, ist er doch von einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit geleitet. Die Welt der fixenden Straßenschläger scheint nicht sein angestammtes Biotop zu sein. Die Zuneigung zu seiner Schwester und ihrem Sohn, die Sehnsucht nach biederer Bürgerlichkeit empfehlen ihn als Identifikationsfigur mit goldenem Herzen.

Als Resultat der fatalen Ereigniskette ist Markus gezwungen, eine neue Identität anzunehmen: David Gross, die Hautpfigur von Martin Krists Roman DRECKSSPIEL ist geboren.

Obwohl dieser chronologisch an ENGELSGLEICH anschließt und daher die logische Fortsetzung bildet, ist DRECKSSPIEL auch eigenständig ein hochspannender Genuss. Jedoch wirkt das aufwendig gestaltete Handlungsgewebe an den Rändern ausgefranst, einzelne Details bleiben unklar … was durch die Einhaltung der vorgesehenen Reihenfolge vermieden würde. Diese nun – wenn auch unabsichtlich – umzukehren, bereitet daher so manche Überraschungsmomente und Erkenntnisse, die vom Autor offensichtlich nicht vorgesehen waren. Im konkreten Fall wurde DRECKSSPIEL als Quereinstieg in Martin Krists Berlin genutzt, während der Lektüre von ENGELSGLEICH waren also die weiteren Ereignisse um Markus alias David Gross bereits bekannt. Dieses willkürliche Neuarrangement verändert den Blickwinkel aus dem das gesamte Bild wahrgenommen und verstanden wird, die Vorgeschichte wird damit zum Rückblick. Obwohl die Handlungsfäden auf die gleiche Weise ineinander verflochtenen bleiben, scheinen sie neue Muster zu bilden, scheint der Kontext neu zu entstehen. Einen Potemkinschen Thriller würde man rasch als solchen enttarnen, wenn man die Perspektive ändert.

Martin Krists Geschichte lässt der Blick hinter die Fassade zu und offenbart ein erfreulich detailliertes Innenleben.

Endlich begegnet man beim Lesen Ilanka, der im Prolog von DRECKSSPIEL nur einen kurzer Auftritt vergönnt ist, endlich ergibt die barsche Frage nach dem Verbleib von Markus einen Sinn. Mit Horst, seinem ehemaligen Partner verliert David Gross die letzte Verbindung zu seinem alten Leben – in “Engelsgleich” erweist er sich als treuer Freund, der Markus immer wieder daran erinnert, wem seine Loyalität zu gelten hat. Kommissar Kalkbrenners Kollege Toni Risse wagt sich im vorliegenden Band kurz ins Bild und wirkt im Nachfolger wie eine gestrauchelte Version von Markus, wie jener, der Markus hätte werden können, hätte er die falschen Entscheidungen getroffen …

 

Persönliches Fazit

ENGELSGLEICH ist ein weiterer hochspannender Martin Krist-Thriller in den Schatten Berlins. Die vielfältigen Beziehungen der Figuren zueinander sind wie unsichtbare Fäden, mit denen die Romane des Autors miteinander verbunden sind.

 

© Rezension: 2018, Wolfgang Brandner

Brandtstifter
Paul-Kalkbrenner-Reihe
Martin Krist
Thriller
Ullstein Verlag, ISBN: 978-3548286396
Taschenbuch Broschur
592 Seiten
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Rezension: Brandstifter | Martin Krist - Buecherkaffee.de 11. Juni 2019 - 9:10

[…] das organisierte Verbrechen auf. Parallelen in Charakterzeichnung und Handlungsverlauf zu Julia in ENGELSGLEICH (die ihr Leben für die Suche nach ihrer verschwundenen Adoptivtochter aufgibt) und Hannah in […]

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