Nominiert zum Bayerischen Buchpreis 2018
Die Historikerin Svenja Goltermann erzählt, wie das Bild des Opfers, das wir heute kennen, sich erst seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet hat: Mit den modernen Gesellschaften entstand das Bedürfnis, die Verluste zu zählen und die Toten zu identifizieren. Zugleich sollte der Krieg humanisiert, Kriegsversehrte sollten versorgt, Überlebende und Hinterbliebene entschädigt werden. So wurde der Begriff des Opfers nach und nach ausgeweitet, von Soldaten auf die zivile Bevölkerung, von körperlichen Verletzungen bis zur Anerkennung des Traumas als seelische Wunde.
Wer jedoch als Opfer überhaupt benannt und anerkannt wird, war und ist eine Frage von Hierarchien und Macht – und damit ein eminent politisches Problem. [© Text und Cover: S. Fischer Verlage]
„Opfer“ ist nun also das erste der sechs für den Bayerischen Buchpreis nominierten Bücher, mit denen ich mich bis zur Preisverleihung am 6. November beschäftigen werde. Bei Sachbüchern gibt es ja große Unterschiede bei der Zugänglichkeit. Manche sind fast schon wie Romane geschrieben, andere haben eher einen wissenschaftlichen Ansatz. Svenja Goltermanns Buch gehört ganz klar zu der zweiten Kategorie. Mit welcher Sorgfalt und Akribie sie ihre Recherchen betrieben hat, kann man allein schon an den 37 Seiten mit Quellenangaben und Hunderten von Fußnoten feststellen. Als Laie auf dem Gebiet der historischen Forschung ist es mir natürlich nicht möglich, den Text wissenschaftlich einzuordnen und zu bewerten. Welchen Eindruck er auf mich als interessierter Leser hatte, gebe ich aber gerne wieder.
Der Begriff „Opfer“ ist mir allgegenwärtig. Über das, was er beinhalten kann, habe ich mir bisher aber noch kaum Gedanken gemacht. Ich habe dann meist ein Bild eines ausgebrannten, hungernden in einem Lager für Kriegsflüchtlinge stehenden Menschen mit leerem Blick vor Augen. Bei der Lektüre des Buchs wird mir schnell klar, dass da noch viel mehr darunter fällt. Beispielsweise die aktive Rolle, sein Leben und seine Gesundheit für „Volk und Vaterland“ zu opfern. Oder die prekäre Frage, ob ein Kindersoldat, der Menschen getötet hat, auch ein Opfer ist. Aber der Begriff ist auch stigmatisierend. Opfer von Kriminellen wollen sich oftmals nicht so hilflos sehen, wie es durch die Bezeichnung suggeriert wird. Wenn mir das Wort „Opfer“ jetzt in den Medien begegnet, habe ich einen wesentlich erweiterten Blick auf die Zusammenhänge.
Wie wichtig die Definition von Opfern ist, zweigt sich bei der politischen Bewertung. Der Druck, sich um die Versehrten zu kümmern und Opfer zu vermeiden, hat beispielsweise die Genfer Konvention hervorgebracht. Politiker winden sich um die Anerkennung von Ansprüchen, denn finanzielle Entschädigungen können enorme Summen erreichen, die sie nicht aufbringen wollen oder können. Das relativiert das Bemühen um Gerechtigkeit ganz schnell.
Dass geschichtliche Fakten mit Zahlen unterlegt werden, kenne ich noch aus meiner Schulzeit. Die Menge an zivilen und militärischen Opfern allein von Erstem und Zweitem Weltkrieg sind kaum begreifbar. Sie sind eine wichtige Grundlage, um Folgen daraus abzuleiten. Svenja Goltermann wartet hier auch mit beeindruckenden Zahlen auf. Wie damals in der Schule wirken sie auf mich allerdings eher abstrakt. Verständlicher werden mir die Auswirkungen von Krieg und Gewalt eher anhand von Einzelschicksalen. Die spielen hier allerdings eine untergeordnete Rolle.
Ist „Opfer“ denn ein preiswürdiges Buch?
Die Sorgfalt und die Argumentation von Svenja Goltermann fand ich beeindruckend, also würde ich das klar bejahen. Ich frage mich allerdings, ob es sinnvoll ist, ein Werk durch den Bayerischen Buchpreis bekanntzumachen, das hauptsächlich für Experten der Soziologie oder Geschichte interessant sein dürfte. Denn durch die wissenschaftliche Herangehensweise und Struktur dürfte sich das Interesse des breiten Publikums wohl eher in Grenzen halten.
Infos zum Bayerischen Buchpreis und zu allen nominierten Titeln gibt es hier auf dem Blog oder unter bayerischer-buchpreis.de.
© Rezension: 2018, Marcus Kufner
Die Autorin:
Svenja Goltermann, geboren 1965, ist Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich und Direktorin des dortigen »Zentrum Geschichte des Wissens«. Sie studierte in Konstanz und Bielefeld, habilitierte sich an der Universität Bremen und war Dozentin an der Universität Freiburg. Ihr Buch »Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg« erschien 2009 und wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem renommierten Historikerpreis (2008) und als Historisches Buch 2010 der Zeitschrift »Damals«. Sie ist Mitbegründerin der Online-Plattform www.geschichtedergegenwart.de.
Sachbuch
S. Fischer – ISBN: 978-3-10-397225-2
23.11.2017
Gebunden
336
www.fischerverlage.de
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