Highlights des Jahres: Jürgen blickt zurück auf sein Lesejahr 2020

by Jürgen Fottner
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Bücher gegen das Vergessen - Lesejahr 2020 - buecherkaffee.de

2020 war ein seltsames Jahr, auch beim Lesen. Obwohl ich viel mehr Zeit als sonst hatte, sind es trotzdem am Ende nur 63 Bücher geworden – aber dafür waren einige sehr umfangreiche dabei und vor allem ein großer Anteil an Sachbüchern, bei denen selbst ich als Schnellleser mehr Zeit brauche. Gerade bei den Büchern zu meinem Leseprojekt #büchergegendasvergessen muss ich mir sowohl beim Lesen als auch teilweise danach einfach etwas Zeit nehmen…

Für alle, die mir nicht auf  Instagram (@rat_krespel) folgen, und sich daher vielleicht wundern: Bei mir findet Ihr wenig Neuerscheinungen aus dem Nicht-Sachbuch-Bereich, dafür habt Ihr hier auf dem Blog einige wunderbare Rezensentinnen und Rezensenten, die das wesentlich besser können als ich. Und daher hier meine sieben ganz persönlichen Highlights des vergangenen Jahres, verbunden mit ganz subjektiven Gedanken dazu.

Meine Highlights des Jahres

Bücher gegen das Vergessen - Lesejahr 2020 - buecherkaffee.de

Adalbert Stifter: Witiko

Gleich das erste Buch 2020 hat mich begeistert und im Bereich Belletristik ist das auch mein Jahreshighlight. Witiko führt uns in das Herzogtum Böhmen im 12. Jahrhundert und von dort aus dann in die gesamte europäische Geschichte dieser Zeit bis zum großen Italienfeldzug Barbarossas und ist Stifters vielleicht wichtigster Roman – ein historischer Roman par exellence. Nicht zu vergleichen mit dem, was man heute allgemein unter historischen Romanen versteht. Hier geht es nicht um einzelne Personen, für die der historische Hintergrund nur eine Leinwand, einen schönen Rahmen bildet – und deren Geschichte man beliebig in jede Zeit verlegen könnte.

In Stifters Verständnis bedingen sich die beiden Ebenen untrennbar miteinander und es gibt auch einen klaren Schwerpunkt: “Es erscheint mir daher in historischen Romanen die Geschichte die Hauptsache und die einzelnen Menschen die Nebensache, sie werden von dem großen Strome getragen und helfen den Strom bilden.” Stifters Art zu schreiben führt zu dem, was wir modern Entschleunigung nennen; das heißt aber auch, dass man sich auf diese intensive, langsame und nicht primär von Spannung geprägte Erzählweise einlassen muss. Wenn man das aber schafft, ist es purer Genuss. Wer noch nie etwas von Stifter gelesen hat, sollte aber auch nicht mit diesen 900 Seiten anfangen, sondern erst einmal mit einer seiner Erzählungen…

 

Johan Harstad: Max, Mischa & die Tet-Offensive

Im Rahmen der Frankfurter Buchmesse 2019 hatte ich das Vergnügen, Johan Harstad selbst in der Buchhandlung meines Vertrauens zu erleben. Als ich den Roman dann Monate danach gelesen habe, war für mich alles, was er über das Buch äußerte, völlig nachvollziehbar und logisch. Max, Mischa & die Tet-Offensive ist ein Roman über Verlust – den Verlust von Heimat, Zuhause, Liebe, Beziehungen, Job, Familie, Freundschaften, Gesundheit, Leben, Lebenslust, Bezugspunkte… Und es gibt keine Person in dem Roman, die nicht etwas verliert. Das überzeugt mich übrigens am meisten an dem Buch: Alle Personen wirken echt, alles könnte genau so passiert sein und immer wieder wird ein (Lebens)gefühl beschrieben, bei dem jemand sagen wird: „Das kenne ich“ – ich z.B. habe mich sehr oft wiedergefunden! Erzählt ist der Roman wie die Tet-Offensive ablief, es werden Dutzende von Geschichten gleichzeitig erzählt.

Ab und an liest man als Kritik oder gar Vorwurf, dass der Autor zu langatmig schreiben würde, dass man das doch auch kürzer hinbekommen hätte. Das hat schon an dem besagten Abend zu großer Belustigung geführt: “Mein” Buchhändler fragte Johan Hastad, warum es ihm denn z.B. wichtig war zu erzählen, dass die Herkunft einer Flasche Bier ein Diebstahl war. Antwort (mit leichter Entrüstung): Alles in dem Roman ist wichtig! Johann Hastad meinte, er habe über 500 Seiten gekürzt, was dann noch übrig blieb, ist selbstverständlich wichtig!

 

Volker Ullrich: Adolf Hitler. Die Jahre des Aufstiegs; Die Jahre des Untergangs

1.532 Seiten (ohne die Anmerkungen), Dutzende von Klebezetteln zur weiteren Beschäftigung, eine große Menge an neuen Erkenntnissen, viele revidierte, als falsch, halbwahr oder zumindest zu hinterfragend erkannte Meinungen zur NS-Zeit und zur Führungsgestalt des Dritten Reiches – das Ergebnis meines größten Leseprojektes des Jahres. Volker Ullrichs zweibändige Biografie ist mit Sicherheit das, was man ein Standardwerk nennen kann und wird auf lange Sicht das Maß aller Dinge bei der Beschäftigung mit dem Diktator sein. Das liegt zum einen daran, dass Volker Ullrich auf mehr Quellen zugreifen konnte als viele seiner “Vorgänger”, zum anderen aber auch an seiner sehr nüchternen Art, sich dem Thema zu nähern, wodurch es ihm gelingt, viele alte Stereotypen, Vorurteile oder emotional geprägte “Erkenntnisse” neu zu bewerten. Aber diese nüchterne Herangehensweise nimmt dem Thema nichts von seinem Schrecken!

 

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Jacques LeGoff (Hrsg.): Menschen des Mittelalters

Wenn ich einen Preis für das schönste Buch der letzten Jahre vergeben dürfte, dann für dieses. Das Buch beinhaltet über 100 Portraits bekannter Persönlichkeiten (Männer und Frauen) des Mittelalters – Herrscher, Gelehrte, Künstler, Kirchenvertreter und elf Portraits imaginärer Figuren wie Robin Hood oder Merlin. Der Herausgeber Jacques LeGoff gehörte zu den großen Historikern der Mittelalterforschung und hat für dieses Buch viele renommierte Kolleginnen und Kollegen gewinnen können. So sind die Texte, wenn auch kurz, selbst für Menschen, die sich viel mit dem Mittelalter beschäftigen, eine wirkliche Bereicherung. Was dieses Buch aber zu etwas wirklich Herausragendem werden lässt, sind die wunderschönen Bilder – fast alles mittelalterliche Gemälde, Zeichnungen, Büsten…. Wer also einen Einblick in das Leben von Menschen gewinnen möchte, welche die Geschichte, die Kultur, die Religion… weit über das Mittelalter hinaus prägten, und das dann auch noch in so opulenter Form, sollte unbedingt einen Blick in das Buch werfen.

 

Ralf Rothmann: Hotel der Schlaflosen

Diesen Erzählband habe ich hier auf dem Blog schon ausführlich gewürdigt (> zur Rezension), daher nur noch einmal in aller Kürze: Für mich persönlich reicht kaum ein lebender Autor erzählerisch an Ralf Rothmann heran – und all sein Können, seine Stärken kulminieren in dieser Sammlung in der titelgebenden Erzählung „Hotel der Schlaflosen“.

 

Markus Roth und Sascha Feuchert (Hg.): HolocaustZeugnisLiteratur:

Die beiden Herausgeber haben insgesamt 20 Personen von Historikern wie Wolfgang Benz und Volker Ullrich über Journalisten*innen wie Sigrid Löffler bis hin zu Schriftstellern*innen wie Steve Sem-Sandberg oder David Safier gebeten, über ein Buch der Literatur über den (oder aus dem) Holocaust zu schreiben. Herausgekommen ist ein hochinteressantes Kompendium, das auch davon lebt, dass die Autorinnen und Autoren sich nicht an die Vorschläge halten mussten, sondern frei wählen konnten. So finden sich in dem Buch bekannte Bücher wie „Jakob der Lügner“, „Die Ermittlung“, „Roman eines Schicksallosen“ aber auch eine große Menge unbekannter Bücher, selbst für mich, der sich ja wirklich viel mit dem Thema beschäftigt…

Aber unabhängig von den 20 hervorragenden Texten: Wenn dieses Buch nur aus der Einleitung der beiden Herausgeber bestehen würde, wäre es schon eines meiner Jahreshighlights geworden! Denn diese etwas über 20 Seiten bieten einen fundierten, fachkundigen und hervorragend aufgebauten Überblick über den Umgang der Germanistik mit Literatur über und aus dem Holocaust. Es war mir nicht bewusst, wie sehr sich das seit 1945 immer wieder geändert hat und wie lange es überhaupt gedauert hat, bis anerkannt wurde, dass diese Literatur etwas Wichtiges zu sagen hat, auch wenn sie sprachlich nicht immer den Ansprüchen der germanistischen Eliten genügte.

 

Volker Ullrich: Acht Tage im Mai. Die letzte Woche des Dritten Reiches

Volker Ullrich ist tatsächlich zwei Mal dabei. Aber das hat auch seinen guten Grund: Acht Tage, acht Kapitel, vom 01. bis zum 08. Mai 1945 mit einem Prolog zum 30.04. und einem Epilog. Ein wenig erinnert das Prinzip an Florian Illies mit seinem Buch 1913 – unter jeweils einem Datum werden Ereignisse aus unterschiedlichen Bereichen erzählt, die dann über die Tage hinweg immer wieder aufgegriffen werden. Wobei ich nur das Prinzip vergleichen möchte, denn während Florian Illies mehr anekdotenhaft berichtet (was aber auch seinen Reiz hat), handelt es sich bei Volker Ullrich um ein zwar spannend erzähltes, aber dennoch wissenschaftliches Buch.

Der Autor verbindet entscheidende Ereignisse (z.B. die Bildung und Auflösung der Dönitz-Regierung, verbunden mit internen Machtkämpfen, die letzten Kämpfe zwischen den Alliierten und der Wehrmacht, die Kapitulationsverhandlungen mit den zunehmenden Spannungen zwischen Russland und den drei anderen Nationen) mit Tagebucheinträgen, Briefen und anderen Aussagen bekannter (Erich Kästner, Astrid Lindgren, Klaus und Thomas Mann…) und uns unbekannter Menschen. Wir lesen über die Befreiung der letzten Konzentrationslager, die letzten Tage im Widerstand, Flüchtlinge in beide Richtungen, Zerstörungen (ohne auch nur im Geringsten das Grauen der Nazis damit zu relativieren), Angst, Hoffnung, Verzweiflung, über die sofort einsetzende Haltung „Wir haben ja nichts gewusst“, und über vieles mehr. So spannend und gleichzeitig wissenschaftlich fundiert kann man also in der oft so akademisch geprägten Welt der deutschen Historikerzunft auch schreiben.

Was ich sonst noch gelesen habe, findet Ihr (fast) alles auf Instagram und teilweise hier auf dem Blog ( > zu den Besprechungen). Und wenn ich auf die Bücher schaue, die jetzt schon hier liegen und darauf warten, gelesen zu werden, dann kann 2021 nur ein tolles Lesejahr werden!

Euer Jürgen

 

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